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23.04.2006

Firmen-Usability: Reifegrad: 1-4

Wenn Usability-Ansätze heranreifen, durchlaufen Organisation normalerweise ähnliche Stadien: von der anfänglicher Feindschaft bis hin zu weit reichendem Vertrauen auf die Nutzerforschung.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 24.04.2006

 

Normalerweise durchleben Organisationen verschiedene Stadien, wenn ihre Usability-Prozesse heranreifen. Da diese Stadien recht universell sind, können Sie Ihre eigene Organisation mit den folgenden Beschreibungen vergleichen, um zu sehen, in welches Stadium Sie wahrscheinlich als nächstes gelangen werden.

Stadium 1: Feindschaft gegenüber der Usability

Das Ausgangsstadium steht unter dem Motto: "Nur ein toter Nutzer ist ein guter Nutzer". Die Entwickler wollen einfach nichts von Nutzern und ihren Bedürfnissen hören; sie streben nur danach, Instrumente zu konstruieren und dafür zu sorgen, dass sie im Computer funktionieren. In diesem Denkmodell sind Menschen eher zweitrangig - man sagt ihnen, wie sie das System zu nutzen haben, und es spielt keine Rolle, ob ihnen das leicht fällt oder ob es angenehm ist.

In den frühen Zeiten des Computers (1945-1965) war dies der effizienteste Ansatz bei den meisten Projekten. Die Hardware war so teuer, dass es Sinn machte, Leute den Bedürfnissen des Computers unterzuordnen. Um 1965 wurden die Computer billiger, und inzwischen wurden sie von so vielen Leuten genutzt, dass es wirtschaftlich interessant wurde, Trainingskosten zu reduzieren und die Nutzerproduktivität zu steigern. Usability fing an zu rentieren - in den wenigen Unternehmen, die sie anwandten; aber in den meisten IT-Läden überwog die Skepsis gegenüber Usability bis in die 1980er Jahre.

Auch heute noch gibt es eine Webdesign-Schule, die die Nutzer ignoriert in der Annahme, dass es besser sei, Anwender zu bevormunden und das Web in eine Art Fernsehen zu verwandeln.

Wenn sich Ihr Unternehmen im Stadium der Feindschaft befindet, können Sie Ihre Kampagne für Usability vergessen. Die Leute müssen sich erst ändern wollen, ehe es eine Chance gibt, ihnen dabei zu helfen. Erst wenn das Unternehmen von seinen vorsintflutlichen Attitüden genügend Schaden davon­getragen hat, wird sich das Management besinnen und ins nächste Stadium eintreten.

Stadium 2: Entwicklerzentrierte Usability

Früher oder später erkennen die meisten Unternehmen, dass es sich lohnt, die Designs nutzerfreundlicher zu machen. An diesem Punkt liegt der (irrige) Ansatz am nächsten, dass sich das Design-Team auf seine eigene Intuition verlässt, um herauszufinden, was gute Usability ausmacht.

Schliesslich sind die Team-Mitglieder auch nur Menschen und sie nutzen Computer und Websites. Sicher wissen sie, ob etwas leicht zu nutzen ist oder nicht. Die vorhandenen Team-Mitglieder haben zudem einen gewaltigen Vorteil: Sie sind bereits an Bord, nehmen an jedem Projektmeeting teil und scheuen sich nicht, ihre Designstandpunkte einzubringen.

Dieser Ansatz funktioniert gut bei einer Klasse von Designproblemen: Entwicklungswerkzeuge wie z.B. Web-Server für Entwickler und andere Spezis. Open-Source-Projekte wie Perl, Linux und Apache haben mit entwicklerzentriertem Design grosse Erfolge erzielt. Doch selbst diese Projekte hätten besser werden können mit einer systematischeren Usability-Einbindung von Leuten ausserhalb des Designteams. Programmierer, die in den Innereien von Apache arbeiten, haben ein tieferes Verständnis von Apache als andere technische Experten, die Apache bloss nutzen wollen.

Für Projekte, die auf ein breiteres Publikum abzielen, ist es verheerend, wenn man sich darauf verlässt, was das Designteam für einfach hält. Wer in einem Projekt mitarbeitet, weiss viel zu viel darüber, als dass er externe Nutzer repräsentieren könnte.

Zum Glück ist der Unterschied zwischen dem konzeptionellen Modell eines Teammitgliedes und dem eines Durchschnittsnutzers leicht zu erklären. Die Pille ist für Teammitglieder zudem leicht zu schlucken, weil man ihnen im Grunde sagt, dass sie zu geschickt sind und zu viel wissen, um einen Durchschnittsnutzer repräsentieren zu können.

Im Stadium 2 haben Sie einen gewichtigen Vorteil: Die Leute kümmern sich um Usability. Das heisst, von hochrangigen Verantwortlichen bekommen Sie wahrscheinlich immer noch Lippenbekenntnisse zu hören; man sagt: "Ein gutes Nutzererlebnis hat hohe Priorität" und versäumt es dennoch, handfeste Mittel für die Usability-Arbeit bereitzustellen. Insofern können Sie zwar nicht direkt vom Stadium 2 aus in einen ausgearbeiteten Usability-Prozess übergehen, aber Sie finden wahrscheinlich Leute, die für die Logik der Usability offen sind. Diese Leute werden auch einige Bereitschaft zeigen, zum Stadium 3 überzugehen - wenn Sie sie weiterhin antreiben.

Stadium 3: Fürsprecher-Usability

In diesem Stadium erkennt die Organisation, dass sie sich nicht auf das persönliche Urteil des Designteams darüber verlassen sollte, was wohl für Kunden einfach zu nutzen sei. Die meisten Design-Entscheidungen werden sich allerdings weiterhin auf dieses Urteil stützen, weil die Leute zu der Annahme neigen, sie seien sowohl archetypisch als auch der Mittelpunkt des Universums. Die Designer wissen dann zwar, dass sie sich externe Daten besorgen sollten, aber sie strengen sich nicht besonders an, die Daten zu erheben.

Trotz aller Hindernisse werden in diesem Stadium ein paar Gruppen innerhalb des Unternehmens kleine Usability-Projekte anpacken. Vielleicht rekrutiert jemand eine Handvoll Nutzer für einen einfachen Test. Vielleicht beauftragt ein Manager einen externen Usability-Experten, zum ersten Mal in der Firmengeschichte eine unabhängige Qualitätskontrolle des Nutzererlebnisses durchzuführen.

Was dieses Stadium von höheren Niveaus unterscheidet, ist der Umstand, dass Usability keinen offiziellen Status hat und es kein im Voraus festgelegtes Budget dafür gibt. Alle Usability-Aktivitäten werden ad hoc von Fürsprechern der Nutzer vorangetrieben, die ein bisschen mehr Daten haben wollen, um die Qualität der einen Sache zu verbessern, an der sie gerade arbeiten.

Primitiv wie sie ist, ist die Fürsprecher-Usability durchaus effektiv. (Die Seitenspalte zeigt ein ein Beispiel, bei dem ein Test mit gerade einmal zwei Nutzern die Wahrscheinlichkeit, von zwei Designs das bessere zu erwischen, von 50% auf 76% erhöht hat.) Selbst winzige Usability-Projekte können in einem Unternehmen, das vorher gar keine Usability betrieben hat, gar nicht anders als riesige Verbesserungen im Nutzererlebnis herbeizuführen. Das alte Klischee von den niedrig hängenden Trauben bewahrheitet sich in solchen Fällen immer.

Wenn Sie vom Stadium 2 ins Stadium 3 fortschreiten, können Sie sich auf die Logik verlassen - und vielleicht auf ein bisschen Schmeichelei -, um die Mitglieder des Designteams davon zu überzeugen, dass sie viel zu viel wissen, um Durchschnittskunden repräsentieren zu können. Wenn Sie sich vom Stadium 3 nach oben bewegen, müssen Sie sich allerdings auf Ergebnisse verlassen.

Wenn die Designs eine kleine Usability-Injektion bekommen, werden sie besser - hoffentlich so viel besser, dass die Ergebnisse für jeden sichtbar sind. Die einzige Untiefe besteht darin, dass wirklich grossartige Usability im Nachhinein so offensicht­lich erscheint, dass das Management vielleicht nicht anerkennt, wie viel Arbeit darin steckte, das Design zu vereinfachen. Um zu verhindern, dass das übersehen wird, archivieren Sie die anfänglichen Design-Entwürfe, so plump sie auch aussehen mögen, und zeigen Sie Vorher-Nachher-Vergleiche, um den Usability-Fortschritt zu dokumentieren.

Stadium 4: Das ausgewiesene Usability-Budget

Vielleicht steigt ein Manager, der ein bisschen Usability aus der Portokasse finanziert hat, zum Direktor auf und hat nun ein grösseres Budget. Vielleicht beschliesst ein Vizepräsident, den Usability-Aspekten der Produktqualität eine höhere Priorität zu verleihen. Etliche Szenarios können dazu führen, dass ein Unternehmen mehr in Usability investiert. Normalerweise ist der primäre Grund, dass einige der kleinen Usability-ad-hoc-Projekte aus Stadium 3 die Blicke von Vorgesetzten auf sich gezogen und sie davon überzeugt haben, dass das Unternehmen von der Verbesserung des Nutzererlebnisses profitieren wird.

Der entscheidende Unterschied zwischen den Stadien 3 und 4 ist das ausgewiesene Budget für Usability. Mag es auch klein sein, aber das Budget wird im Voraus eingesetzt, das heisst: Usability wird nun genau so geplant wie andere Qualitätssicherungsmassnahmen.

Je nach Grösse des Unternehmens mag das Budget bloss einen Prozentsatz der Arbeitszeit eines einzelnen Mitarbeiters abdecken oder es reicht für einige Vollzeit-Usability-Spezialisten. In jedem Fall wird das Usability-Personal über das Unternehmen verstreut und hat zunächst keine systematischen Prozesse etabliert. Aber wenigstens haben sie Usability in ihrer Arbeitsplatzbeschreibung stehen und haben einen Topf Geld für Sachen wie das Rekrutieren von Testnutzern (was im Schnitt $ 171 pro Nutzer kostet).

In diesem Stadium sieht das Unternehmen meist Usability als eine Art Zaubertrank an, den man spärlich über eine Nutzeroberfläche träufelt, um sie aufzupolieren. Die hauptsächliche Usability-Methode sind Nutzertests, die ausnahmslos spät im Entwicklungsprozess durchgeführt werden, wenn die Nutzeroberfläche zumindest schon teilweise implementiert ist.

Das widerspricht den empfohlenen "best practise"-Ansätzen, die häufige und frühe Tests erfordern, einschliesslich der Verwendung von Papierprototypen, die die Teams ohne die Kosten einer vollständigen Design-Implementierung testen können. Je mehr Arbeit in die Implementierung einer Nutzeroberfläche geflossen ist, desto weniger wird das Management gewillt sein, jene Änderungen in der Architektur vorzunehmen, die normalerweise nötig werden, sobald ein Design erstmals dem Zugriff realer Nutzer ausgesetzt wurde.

Um vom Stadium 4 weiter nach oben zu schreiten, ist es nötig, noch mehr Rentabilitätsbeweise anzuführen. Wenn man vom Stadium 3 zum Stadium 4 voranschreitet, ist es recht einfach, glaubwürdige Ergebnisse zu liefern: Sie können kaum weniger als dramatische Verbesserungen erzielen, wenn Sie einem Projekt zum ersten Mal ein bisschen Usability zuführen. Und via Fürsprecher-Usability kommen Sie diese Vorteile billig.

Bei einem richtigen Budget brauchen Sie grössere Verbesserungen, um die gestiegenen Usability-Investitionen zu rechtfertigen. Da Usability-Methoden einen erstaunlich hohen ROI haben, werden solche grossen Verbesserungen tatsächlich kommen, aber sie brauchen ihre Zeit. Sie brauchen mehr als zwei, drei Erfolgsberichte. Sie brauchen etliche Produkte im Feld mit höheren Konversionsraten, weniger Anrufe beim Service-Telefon, bettere Intranet-Produktivität oder welche Kennziffern auch immer für Ihr Unternehmen entscheidend sind.

Sammeln Sie die Ergebnisse aller Ihrer Usability-Projekte; vielleicht haben Sie dann genug Argumentation, um den Business-Case für den Übergang ins Stadium 5 hinzukriegen: das Usability-Management.

Stadien 5-8: Nächste Woche

Im Stadium 4 hat das Unternehmen begonnen, Usability ernst zu nehmen, aber es ist noch ein weiter Weg zur vollen Reife im Stadium 8. Zwar markiert Stadium 4 numerisch die Hälfte des Weges, aber gewöhnlich dauern die Schritte durch die verbleibenden Stadien viel länger als die Schritte durch die ersten vier.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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