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15.03.2009

Texte gestalten für den Kindle

Schreiben für den Kindle ist wie eine Kombination von Schreiben für gedruckte Medien, fürs Internet und für mobile Geräte; optimale Usability bedeutet optimierte Inhalte für den speziellen Charakter der jeweiligen Plattform.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 16.03.2009

 

Inhalte an den E-Book-Reader Kindle anzupassen bedeutet, eine unheilige Mischung von Usability-Richtlinien für andere Umgebungen zu befolgen:

  • Richtlinien für gedruckte Texte beim Fliesstext
  • Internet-Richtlinien für Überschriften und Zusammenfassungen
  • Richtlinien für mobile Geräte beim Seitendesign und Interaktions-Design

Fliesstexte: lineare Abfolge

Wie ich in meinem Bericht über die Usability des Kindle 2 besprochen habe, ist das Gerät am besten für das Lesen langer linearer Texte wie Romane oder einige Sachbücher geeignet. Die beste Nutzerfunktion des Kindle ist das Umblättern der Seite; wenn Sie ein Leseerlebnis für den Kindle gestalten, sollte es keine anderen Interaktionen erfordern.

Lineare Bücher zu schreiben, erfordert eine Fähigkeit, die alle guten Autoren bereits besitzen: die Fähigkeit, die Leser mit der Handlung zu fesseln.

Der Kindle funktioniert ebenfalls gut bei langen, erzählerischen Artikeln, wie sie in bestimmten Literaturmagazinen und Sonntagsbeilagen von Zeitungen vorkommen. Daher ist es keine Überraschungen, dass The New Yorker zurzeit das beliebteste Magazin für das Gerät ist.

Der Kindle funktioniert schlecht bei Sachbüchern, die viele Illustrationen haben oder bei denen man häufig zwischen den Abschnitten vor- und zurückblättern muss. Selbst wenn der Kindle einen farbigen Bildschirm hätte, wären Bücher mit vielen Illustrationen besser in Buchform zu lesen, weil es umständlich ist, sich durch den Kindle zu bewegen. Meine eigenen Bücher fallen in diese Kategorie, so dass ich Ihnen nicht wirklich empfehlen kann, sie für den Kindle zu kaufen, auch wenn ich so vielleicht mehr Bücher verkaufen würde. Mein jüngstes Buch ist im Kindle-Format erhältlich, so dass Sie ein Kapitel frei herunterladen und es selber ausprobieren können (um es dann in gedruckter Form zu kaufen :-)

Die Möglichkeit, die ersten Seiten eines Buches gratis zu lesen, ist eine grossartige Neuerung des Kindle und nutzt die Fähigkeit des digitalen Mediums optimal aus, den Zwang zu überwinden, der bei Druckwerken unvermeidlich ist: den Zwang, mehrere Kapitel zu bündeln. (Also eine Funktion, die besser als die Realität ist.) Durch diese Neuerung werden zweifellos mehr Bücher verkauft werden - besonders bei Belletristik, wo die Leute wissen wollen, was als nächstes passiert, sobald sie von einer Geschichte gefesselt worden sind. Bei Zauberromanen könnte Amazon wahrscheinlich 90% kostenlos abgeben und den gesamten Preis bloss für das letzte Kapitel verlangen.

Kostenlose Vorab-Ansichten werden auch das Bücherschreiben verändern: Sie müssen dann sicherstellen, dass Sie Ihr bestes Material im ersten Kapitel verarbeitet haben, weil dieses das Buch verkaufen wird.

Leider ist das nicht die Art, auf die ich meine Bücher schreiben möchte. Mein letztes Buch beginnt mit Kapiteln über unsere Forschungsstrategien, darüber, wie wir Usability-Probleme bewerten und nach Wichtigkeit ordnen, und darüber, wie sich unsere neuen Ergebnisse von denen in meinem ersten Buch über Web-Usability unterscheiden, das ich vor 10 Jahren geschrieben habe. Ich möchte gerne, dass ein Buch eine ganzheitliche Erfahrung ist, bei der ich zunächst die Voraussetzungen dafür schaffe, dass die Leser die letzten Kapitel gründlich begreifen (anstatt direkt das Material zu liefern, das sich rechnet, zum Beispiel zu der Frage, wie man Produktseiten präsentieren soll, die ich jetzt erst in Kapitel 9 behandle). Was mich betrifft, haben Sachbücher vor allem deshalb nach wie vor ihren Wert gegenüber Websites, weil sie zum tiefen Nachdenken anregen können, während Websites für die schnelle Übersicht und für kontroverse Stellungnahmen besser sind.

In meinen eigenen Büchern werde ich also wahrscheinlich dem Zwang zur Ablieferung von Anfangskapiteln, die sofort auf den Punkt kommen, widerstehen - aber wenn Sie Kindle-Downloads verkaufen wollen, sollten Sie meinem Beispiel nicht folgen.

Überschriften und Zusammenfassungen: die Navigation im Hypertext und Informationsfährten unterstützen

Bei Zeitungen, Illustrierten und manchen Sachbüchern wollen die Leute nicht den ganzen Text vom Anfang bis zum Ende lesen. Hier müssen Sie ihnen helfen, die Artikel oder Kapitel auszuwählen, die sie lesen wollen.

Das erreichen Sie mit verschiedenen Arten von Inhaltsverzeichnissen wie der folgenden Inhaltsübersicht einer Zeitung:

Inhaltsübersicht The New York Times

Solche Übersichten müssen gemäss den Richtlinien für Online-Texte (Schreiben fürs Web) geschrieben werden.

Die Nutzer sehen die Überschriften normalerweise ausserhalb des Kontextes. Abschnitts-Übersichten innerhalb einer grösseren Publikation sind eine Ausnahme. Im Screenshot oben zum Beispiel handeln alle Artikel von Kunst oder Kultur. Das Haupt-Inhaltsverzeichnis eines Magazins oder die Themenübersicht auf der ersten Seite einer Zeitung bieten weniger Kontext.

In jedem Fall muss Ihre Überschrift und der folgende Anreisser (die kurze Zusammenfassung) genügen, damit die Leser (a) eine Ahnung bekommen, wovon der Artikel handelt, und (b) entscheiden können, ob sie die ganze Geschichte lesen wollen.

Wenn man nur 25 bis 30 Wörter zur Verfügung hat, um diese Ziele zu erreichen, hat man keinen Platz für eine Verfasserzeile. (Die Ausnahme hier gilt für regelmässige Kolumnisten oder für Artikel, die von Prominenten geschrieben wurden; in solchen Fällen entscheiden sich die Leser unter Umständen anhand des Autors für einen Artikel. Interessanterweise ähnelt diese Richtlinie den Richtlinien für das "Von"-Feld in E-Mail-Newsletters.)

Die vierte Überschrift oben: "On Loan, 16th- and 17th-century Spanish, Italian and..." ("Leihweise sind spanische, italienische und ... des 16. und 17. Jahrhunderts…") hätte sicher eine viel stärkere Informationsfährte, wenn der letzte Teil der zweiten Zeile als Überschrift erschienen wäre und nicht der Name des Journalisten. Im Einzelnen fehlen in der Überschrift drei Schlüsselwörter:

  • "Paintings" ("Gemälde"), um den Lesern ein Fundament für das Thema des Artikels zu geben; die Leser können hier die Illustrationen nicht sehen, die in der gedruckten Ausgabe diesen Zweck erfüllen. Das Wort "paintings" erscheint zwar in der Zusammenfassung, aber die Nutzer lesen zuerst die Überschrift; die Zusammenfassung lesen sie erst dann, wenn die Überschrift ihr Interesse geweckt hat.
  • "Exhibition" ("Ausstellung"), um anzugeben, was die aktuelle Nachricht ist. Das Wort "on loan" ("leihweise") gibt zwar einen Hinweis, aber nur indirekt; es ist interpretationsbedürftig. In Überschriften ist es besser, so wörtlich wie möglich zu formulieren, um das Überfliegen zu erleichtern.
  • "Frick Collection" ("Sammlung Frick"), um den Nutzern einen Hinweis darauf zu geben, wie sie die Nachricht nutzen können: Die Ausstellung wird in der Frick Collection gezeigt, so dass die Leser dort hingehen können, um sie zu sehen.

Vergleichen Sie den obigen Screenshot mit der Präsentation des Artikels in der Druckausgabe der New York Times:

Druckausgabe der New York Times

Beachten Sie, wie die beiden Bilder die Geschichte positionieren, sowohl auf der obersten Ebene (es geht um Gemälde) als auch auf einer spezifischeren Ebene (es geht um einen bestimmten Kunststil aus einer bestimmten Epoche). In der Abschnitts- Übersicht für den Kindle müssen Sie den gleichen Kontext liefern, nur mit Hilfe von Worten. Genau wie normalerweise im Internet, wenn Sie eine Geschichte auf der Startseite anreissen, in Suchmaschinen oder an anderen aus dem Kontext gerissenen Stellen.

Beim Adaptieren dieses Artikels für den Kindle haben die Herausgeber wenigstens eine Sache richtig gemacht: Sie haben die Überschrift geändert. "Sharing Reflections of Tycoon Taste and Wealth" (etwa: "Nachdenken über Geschmack und Wohlstand von Industriellen") hat ausserhalb des Kontextes keinerlei Bedeutung. In der gedruckten Ausgabe kann die Headline den Anker des Interesses für Menschliches auswerfen, weil andere Design-Elemente die Leser über das Wer, Was, Wo und Wann informieren.

Interaktions-Design und Seitendesign: Richtlinien für mobile Usability

Wie in meinem Usability-Bericht für den Kindle erwähnt, ist es umständlich, mit dem Gerät über die Fünf-Wege-Steuerung zu interagieren. Ausserdem ist man nach jeder Auswahl dazu verurteilt, auf eine Antwort zu warten, die im Schneckentempo erfolgt. Und wenn sie endlich gekommen ist, sieht man sehr wenig wegen des kleinen Bildschirms.

Abzüglich der Bereiche für Kopf- und Fusszeile ist der Inhaltsbereich des Kindle 2 525 x 650 Pixel gross oder 341 Kilo-Pixel. Ein mittelgrosser PC-Bildschirm ist dagegen 1280 x 1024 Pixel gross, liefert also 999 KP Inhalt; das entspricht drei Kindles.

Durch diese Beschränkungen fühlt sich das Navigieren in nichtlinearen Inhalten beim Kindle ganz ähnlich an wie das Navigieren in Websites auf einem Handy. Deshalb sollten die Designer von Kindle-Inhalten in vielen Fragen der Nutzeroberfläche Richtlinien für mobile Usability befolgen, so auch bei der Präsentation von Artikelseiten.

Angenommen zum Beispiel, wir wählen nach einem Blick auf die Übersicht des Wirtschaftsteils der New York Times die Überschrift aus: "G.M. Lays Its Future on Washington's Doorstep." ("GM legt ihre Zukunft Washington zu Füssen.") Die Zusammenfassung lautet: "Rick Wagoner, the chief executive of General Motors, met with government officials to." (etwa: "Rick Wagoner, Vorstandsvorsitzender von General Motors, traf sich mit Regierungsvertretern." Diese Zusammenfassung ist angesichts der zur Verfügung stehenden Textmenge nicht brillant, aber wir lassen sie gelten.) Ein Klick auf die Überschrift führt uns zu folgender Bildschirmseite:

Bildschirmseite The New York Times auf Kindle

Was ist daran falsch? Zwei Dinge:

  • Die erste Bildschirmseite liefert faktisch keinerlei neue Informationen, die über das hinausgehen, was wir auf der vorigen Seite bereits erfahren haben. Das verletzt eine wichtige Richtlinie für mobile Geräte: Belohnen Sie die Nutzer für die Mühe, die mit jeder Fortbewegung verbunden ist. Wenn der Bildschirm klein ist, dürfen Sie nicht so viel wiederholen und müssen mehr Platz für neues Material bereitstellen.
  • Die nutzlosen Fotos und Bildunterschriften verschwenden den grössten Teil des Platzes. Bilder können zwar wertvoll sein, aber Sie sollten sie normalerweise auf den Folgeseiten unterbringen und die entscheidende erste Bildschirmseite dichtem, Nutzen-orientierten Text widmen. (Die Kunst-Geschichte oben mag eine Ausnahme sein. In so einem Fall mag das Gemälde genügend wertvoll sein, um auf der ersten Bildschirmseite zu erscheinen.)

Vergleichen Sie die Präsentation des Wirtschafts-Artikels im Kindle oben mit der, die auf der ersten Seite des Wirtschaftsteils der Zeitung erschienen ist:

Artikel in der Printausgabe von The New York Times

In der Druckversion dramatisieren die beiden grossen Porträt-Fotos die Spannung zwischen Wirtschaft und Regierung, besonders in Kombination mit der Angst einflössen den Headline: "The Last Option" ("Der letzte Ausweg"). Diese Überschrift wäre sonst vage; hier funktioniert sie, weil sie mit einer erklärenden Unterzeile versehen ist und in einem Kasten zusammen mit einem anderen Artikel über die Autoindustrie erscheint, der weiteren Kontext hinzufügt, darunter das Foto von einem Fliessband.

Diese erste Seite ist ein schönes Beispiel für Zeitungs-Design. Wenn man sie in den Kindle überträgt, wird sie - selbst nach Verbesserung der Überschrift - zu einem Beispiel für schlechtes IT-Design.

Die Informationsarchitektur einer Büchersammlung

Der Kindle wirft noch ein weiteres Problem auf: wie man eine Informationsarchitektur für eine ganze Sammlung von Büchern aufbaut. Nach meinem letzten Artikel haben mir viele Menschen geschrieben, wie sehr sie die Möglichkeit schätzen, eine grosse Menge Bücher in ihrem Kindle unterzubringen und nicht mehr ein Bücherregal nach dem anderen vollstellen zu müssen. Nach zahlreichen Umzügen mit vielen schweren Bücherkisten kann ich das gut nachempfinden.

Der Kindle 2 kann 1500 Bücher im Gerät speichern und noch viel mehr im virtuellen Amazon-Speicher. Leider ist die Nutzeroberfläche nicht darauf eingestellt, die zu erwartende Büchermenge zu verwalten, die ein Vielleser in wenigen kurzen Jahren ansammeln wird. Leider kommt es häufig vor, dass ein Design in der Phase der anfänglichen Nutzung das überschaubare Ausmass der Nutzung gut bewältigt, aber nicht das Ausmass, das ein längerfristiger Gebrauch erfordert mit der entsprechend wachsenden Anzahl von Objekten, die verwaltet werden müssen.

Die Informationsarchitektur der Kindle-Büchersammlung ist einfach:

  • Die Bücher existieren an zwei Orten: auf dem aktiven Bücherbrett oder im Archiv. Wenn Sie das Bücherbrett klein halten, bleibt es einfach zu verwalten, aber dann verschiebt sich das Management-Problem lediglich ins Archiv.
  • Beide Orte erscheinen als lineare Bücherlisten, die man alphabetisch ordnen kann (nach Titeln oder Autoren) oder chronologisch (nach dem letzten Datum, an dem man das Buch angeschaut hat).

Das ist alles. Bei so wenig Konzepten ist die Lernbarkeit hoch. Die ersten paar Monate mit den Kindle werden ein Vergnügen sein. Aber Lernbarkeit ist nur eines von fünf Usability-Kriterien, und erfahrene Nutzer werden immer grössere Schwierigkeiten bekommen, in der wachsenden Büchersammlung etwas wiederzufinden.

Hoffnungsvoll plant Amazon die Einführung einer fortgeschrittenen Informationsarchitektur in zukünftigen Versionen - vielleicht, wenn bessere Hardware eine machtvollere Steuerung der Nutzeroberfläche erlaubt. Auf jeden Fall verfügt Amazon über eine grosse Datenmenge über Bücher, einschliesslich über Kategorien und Ähnlichkeiten zwischen verwandten Werken. Idealerweise sollten auch die Verlage etwas zur Auffindbarkeit ihrer Bücher in grossen Sammlungen beitragen (worum sie sich in der Vergangenheit nicht kümmern mussten).

Das Design mediengerecht optimieren

Seit ich 1995 begonnen habe, die Alertbox zu schreiben, war es ein ständig wiederkehrendes Thema, das Design am Medium auszurichten. Zunächst bedeutete das: "Gestalten Sie Ihre Website nicht wie eine Hochglanzbroschüre." (Das heisst: Design für Druckwerke ist anders als Online-Design.)

Für den Kindle ist es mit Sicherheit nicht akzeptabel, einfach gedruckte Inhalte zweckzuentfremden. Aber genauso wenig können Sie einfach Website-Inhalte dafür zweckentfremden. Um eine gute Kindle-Usability zu erreichen, müssen Sie für den Kindle gestalten. Schreiben Sie Kindle-spezifische Überschriften und erzeugen Sie Kindle-spezifische Artikelstrukturen.

Es ist wirklich keine Überraschung: Dies ist einfach die Lektion von 1995, aktualisiert für ein Gerät von 2009.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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