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18.12.2012

Der Kindle Fire HD ist viel besser als der ursprüngliche Kindle Fire

Der neue Kindle Fire von Amazon hat eine viel bessere Usability als das Modell vom letzten Jahr - und das 7-Zoll-Tablet schlägt die 9-Zoll-Version.

Amazon Kindle Fire HD

Bildquelle: www.amazon.de

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 19.12.2012

 

Letztes Jahr haben wir die Usability der ersten Generation des Kindle Fire von Amazon getestet. Oha, die war schlecht. Das Produkt ist eindeutig auf den Markt geworfen worden, bevor es fertig war, nur damit es rechtzeitig zur Urlaubssaison verfügbar war.

Amazon hatte jetzt ein Jahr Zeit um das Produkt zu verbessern und hat kürzlich die aktualisierten Versionen unter dem Namen Kindle Fire HD auf den Markt gebracht. Er kommt in zwei Formaten: als 7-Zoll- und als 9-Zoll-Tablet.

Ich habe mir beide Formate gekauft. Mein Urteil über die Version 2.0: Ja, wir kommen ins Gespräch. Diese neuen Tablets haben eine ziemlich gute Usability und sind eine Kauferwägung wert. Der Umschwung ist erstaunlich.

Der ursprüngliche Kindle Fire war wie ein Ford Modell T - man musste ihn mit einer Handkurbel anwerfen und er hangelte sich von Panne zu Panne. Nur wirkliche Enthusiasten konnten ihn fahren. Der Fire HD ist mehr wie ein Ford Modell A aus den 1930er Jahren, wie man ihn in alten Gangsterfilmen sehen kann. Er ist ein richtiges Auto und damit können Sie Whiskey aus Kanada ins Land schmuggeln.

Klar, das neue Amazon-Tablet ist immer noch kein 2013er Lexus LS460. Es fehlen ihm, um im Bilde zu bleiben, die Servolenkung, die Automatik, ein Antiblockiersystem, eine Klimaanlage usw. Sie können also den Kindle Fire HD fürs tägliche Pendeln nutzen, aber so zart wie Seide fühlt es sich nicht an - was auch immer der Name des Web-Browsers ("Silk") von Amazon behaupten mag.

Die Hardware ist besser: zackig, weniger grell, besser lesbar

Das Gerätedesign wurde enorm verbessert. Das neue Tablet sieht nicht nur gut aus, sondern fühlt sich, was wichtiger ist, auch gut an. Das neue Gerät ist angenehmer zu halten und Blendeffekte auf dem Bildschirm wurden entfernt (die erste Ausgabe war wie ein Spiegel).

Die Pixeldichte wurde von lausigen 169 Pixel pro Zoll bei der ersten Ausgabe auf vernünftige 216 PPI auf dem neuen 7-Zoll-Tablet und ziemlich guten 254 PPI auf dem 9-Zoll-Tablet verbessert. Sicher, die Erforschung des humanen Faktors hat ergeben, dass wir für eine optimale Lesegeschwindigkeit in Wirklichkeit mindestens 300 PPI brauchen, aber 254 sind dicht genug dran. Ich bezweifle, dass wir den Unterschied in Wörtern pro Minuten Lesegeschwindigkeit messen könnten, ohne Tausende von Nutzern zu testen. Auf jeden Fall garantiert alles oberhalb von 200 PPI eine anständige Typografie und Lesbarkeit.

Die vielleicht wichtigste Verbesserung liegt darin, dass man bei den neuen Tablets das Gefühl hat, dass sie wirklich auf die Eingaben der Nutzer reagieren. Die Trägheit der früheren Tablets war eine ihrer schlimmsten Usability-Schwächen. Ich weiss nicht, ob die kürzeren Reaktionszeiten an einer stärkeren Hardware oder an effizienter geschriebener Software liegen - wahrscheinlich an beidem, denn die Verbesserung ist immens. Dies ist sehr wichtig, weil Reaktionszeiten zu den Hauptdeterminanten für Usability gehören (engl.).

Bessere Software und leichteres Browsen

Doch es gibt einen Software-Bestandteil, der relativ schlecht ist: das ist merkwürdigerweise ausgerechnet die Amazon-Shopping-Anwendung. Wie die folgenden Screenshots zeigen, liefert die App ein klobiges Layout, das den verfügbaren Bildschirmplatz sehr schlecht ausnutzt. Es sieht fast so aus, als hätten sie es aufgegeben, eine für Tablets optimierte Shopping-Nutzeroberfläche zu erzeugen und stattdessen einfach nur die Website abgewandelt.

Amazon-Shop-App Kindle Fire HD
Eine Produktseite in der Amazon-Shopping-App des Kindle Fire HD im 7-Zoll-Modell

Dennoch wurde die Software insgesamt, gegenüber der Version vom letzten Jahr, dramatisch verbessert.

Die E-Mail-Anwendung ist sehr leicht einzurichten und angenehmer zu nutzen als E-Mails auf dem iPad. Zum Beispiel füllt der Posteingang, anders als bei dem idiotisch schmalen Streifen beim iPad, hier den ganzen Bildschirm aus, wodurch es viel einfacher wird, die Mails zu überfliegen und die herauszupicken, die sofortige Aufmerksamkeit erfordern. Der Button zum Erzeugen einer neuen Nachricht ist nicht nur grösser als beim iPad, er ist auch leichter erkennbar; statt eines geheimnisvollen Symbols zeigt der Button die unglaublich simple Aufschrift New.

Sowohl das Tippen als auch das Überarbeiten sind beim Kindle Fire einfacher als beim iPad. Was ich besonders mag, ist der bewegliche Gleitschalter für die Einfügemarke, mit dem man den Cursor ebenso leicht wie präzise im Text positionieren kann.

Der Internet-Browser ist besser als in der alten Version - besonders, weil er endlich zackig genug reagiert, um ein wirkliches browsen und freie Bewegungen zu unterstützen. Dennoch gibt es einen schrecklichen Designfehler: es fehlt eine Funktion, um die Schrift zu vergrössern. Man kann natürlich das ganze Bild zoomen, aber dann wird die ganze Seite grösser und nicht nur der Text.

"Text vergrössern" ist eine Kernfunktion von Internet-Browsern seit den Zeiten von Mosaic und so konnte ich zuerst gar nicht glauben, dass ich sie im Silk-Browser von Amazon nicht finde. Anfangs fühlte ich mich als Opfer des "dummer-Nutzer"-Syndroms, gab mir selbst die Schuld, dass ich unfähig war, die Funktion zu finden und schickte eine E-Mail an den Kundendienst. So erfuhr ich, dass ich die Schriftgrössen-Funktion gar nicht finden konnte, da es sie beim Kindle-Browser nicht gibt. Wenigstens hat der Kundendienst von Amazon schnell geantwortet und eine klare Antwort gegeben, die allerdings eine Geringschätzung aller Kunden an den Tag legt, die älter sind als 40.

Tablets sollten eine universelle Nutzerpräferenz für die lesbare Schriftgrösse anbieten und auf jeden Text an jedem Ort des Systems anwenden. Die Nutzer sollten nicht gezwungen werden, die Grössenpräferenz in jeder einzelnen Anwendung festzulegen.

Das Karussell bleibt eine miserable Entschuldigung für einen Startbildschirm mit unglaublich niedriger Informationsdichte. Nehmt euch ein Beispiel an den lebendigen Kacheln von Windows 8 (ohne deren Exzesse zu übernehmen).

Ein universeller Zurück-Button

Besonders nützlich bei der neuen Kindle-Software ist ein kleiner Satz generischer Befehle, der überall zugänglich ist. Wie bei den "Charms" bei Windows 8 erscheint eine Leiste mit diesen Befehlen, wenn man den Rand des Bildschirms berührt. Aber anders als bei Windows 8 zeigt der Kindle ein kleines, stets sichtbares Symbol, das man berühren kann, um die Leiste aufzurufen.

Diese schwarze Leiste ist unten auf dem vorigen Screenshot zu sehen. Sie enthält allgemeine Funktionen wie "Zurück zur Startseite", Suche und ein Favoriten-Symbol, über das man mit einem einzigen Klick zum Web-Browser, zur E-Mail-Funktion oder einer anderen Anwendung gelangen kann, die man dort einstellt.

Ausserdem gibt es einen Zurück-Button (und, wo es passt, einen Vorwärts-Button). Die Usability der gesamten Plattform profitiert deutlich von der universellen Natur dieses Zurück-Buttons. Denken Sie an das folgende typische Szenario:

  1. Sie lesen eine E-Mail, die einen Link auf einen Artikel in einer Website enthält.
  2. Sie klicken den Link an und lesen den Artikel.
  3. Jetzt möchten Sie zur E-Mail zurückkehren, um sie zu Ende zu lesen.

Was tun? In den meisten Systemen müssen Sie den Web-Browser schliessen, um den Weg zurück zum E-Mail-Programm zu finden, in der Hoffnung, dass es immer noch die Nachricht anzeigt, die Sie gerade gelesen hatten. Wenn es einen universellen Zurück-Button gibt, brauchen Sie den nur anzuklicken, wie Sie es auch tun würden, um zur vorigen Webseite zurückzukehren. Dieses Zurückspringen funktioniert über alle Anwendungen hinweg, genauso wie es sein sollte, weil die Nutzer genau so denken.

7-Zoll- oder 9-Zoll-Tablet: welches nutzt den verfügbaren Bildschirmplatz besser aus?

Der Kindle Fire HD kommt in zwei Versionen heraus: als mittelformatiges 7-Zoll-Tablet und als fast vollformatiges 9-Zoll-Tablet (um genau zu sein: mit 8.9 Zoll in der Diagonale).

Leider wurden die meisten von dritter Seite erstellten Anwendungen im App-Store von Amazon nicht so gestaltet, dass sie die beiden Bildschirmformate und ihre besonderen Eigenschaften optimal ausnutzen. Stattdessen sehen die meisten Apps gleich aus, wenn sie auf einem 7- oder einem 9-Zoll-Bildschirm laufen. Das ist hoffentlich ein vorübergehendes Phänomen; dass Amazon ein Vollformat-Tablet anbietet, was vollformatige Apps erfordert, ist neu.

Vergleichen Sie die folgenden Screenshots des Magazins FORTUNE auf den beiden verschiedenen Tablet-Formaten. Die beiden Bildschirm-Layouts sind im Grunde identisch, ausser dass die Schriftgrösse auf dem 9-Zoll-Bildschirm zu gross ist, um Textblöcke bequem lesen zu können.

App Fortune Magazin auf Kindle Fire HD
Die App des Magazins FORTUNE auf dem 7- und dem 9-Zoll-Modell des Kindle Fire HD. Das Tab-Symbol unten auf dem Bildschirm dient dazu, die Steuerungsleiste hervorzuholen

(Ich habe die Screenshots verkleinert, aber sie erscheinen proportional zu ihrer physischen Grösse auf den Tablets. Dazu kommt: Die 9-Zoll-Version hat eine bessere typografische Qualität wegen der höheren Pixeldichte - ein Vorteil, der in diesen Reproduktionen nicht zu erkennen ist.)

Einige Apps passen sich an die beiden Bildschirmformate an und nutzen sie aus. Zum Beispiel erscheint ein Artikel des Magazins National Geographic in der App, je nach Tablet-Format, in einem anderen Layout:

National-Geographic-App, Kindle Fire HD 7-Zoll
Die National-Geographic-App auf dem 7-Zoll-Modell des Kindle Fire HD

National-Geographic-App, Kindle Fire HD 9-Zoll
Die National-Geographic-App auf dem 9-Zoll-Modell des Kindle Fire HD

Auf dem kleineren Bildschirm verwendet National Geographic ein vereinfachtes, einspaltiges Layout, während auf dem grösseren Bildschirm ein anderes, komplexeres Layout gezeigt wird. Leider zwingt die App den Nutzern eine spezifische Bildschirm-Orientierung auf; mit einer gewissen Berechtigung haben die Designer beim 7-Zoll-Layout eine vertikale und beim 9-Zoll-Layout eine horizontale Orientierung bevorzugt. Auf jeden Fall ist klar, dass National Geographic versucht, uns auf dem grösseren Bildschirm mehr zu geben und auf dem kleineren Bildschirm die Usability beizubehalten. Das ist nett.

Ein weiteres Beispiel für unterschiedliche Designs für die beiden Tablet-Formate liefert Bloomberg:

Bloomberg-App auf Kindle Fire HD
Die Bloomberg-App auf dem 7- bzw. 9-Zoll-Modell des Kindle Fire HD

Auch hier ist der schmalere Bildschirm besser für ein eindimensionales Layout, während der grössere Bildschirm ein zweidimensionales Layout ermöglicht, das es einfacher macht, die Headlines nach Kategorien zu überfliegen.

Auch wenn wir erst mehr Forschungsergebnisse brauchen um definitive Usability-Richtlinien für Mittelformat- bzw. Vollformat-Tablets auszuarbeiten, scheinen zwei Richtlinien nach diesen Beispielen schon klar zu sein:

  • Verkleinern bzw. vergrössern Sie ein Design nicht einfach, um es auf kleineren Bildschirmen kleiner und auf grösseren grösser zu machen; der grössere Bildschirm sollte mehr Funktionen und mehr Informationen anbieten.
  • Zeigen Sie auf dem grösseren Bildschirm nicht einfach nur mehr; verwenden Sie ein anderes Layout, um den zusätzlichen Platz auszunutzen.

Im Grunde sollten Sie das Design genau für die jeweils vorliegende Bildschirmgrösse optimieren, weil Pixel die kostbarsten Immobilien der Welt sind. Nicht so sehr, weil die Kunden für die 1.9 Zoll Zusatz-Pixel 50% mehr bezahlt haben, sondern weil durch jeden Quadratzoll Bildschirmfläche Milliarden von Dollar fliessen. Ich habe einmal ausgerechnet, dass der Platz auf der Startseite eines Grossunternehmens 1300 mal mehr wert ist als Grund und Boden im Zentrum von Tokio.

Ich möchte es zurzeit noch nicht zur offiziellen Richtlinie erklären, aber es scheint doch so, dass 7-Zoll-Tablets am besten von einem einspaltigen Layout bedient werden. Sobald wir mehr Apps mit unterschiedlichen Design-Ansätzen getestet haben, wissen wir mehr und ich werde Sie auf dem Laufenden halten.

UI vs. UX vs. Wert

Bei einer Produktentwicklung arbeitet das Designteam an der Nutzeroberfläche (User Interface, UI) - also daran, wie die Nutzer das Produkt handhaben und seine Funktionen erreichen. Wie oben gesehen hat das Amazon-Team dieses Mal beim UI-Design eine viel bessere Arbeit abgeliefert als zuvor.

Allerdings ist das Gesamt-Nutzererlebnis (User Experience, UX) viel wichtiger als die Nutzeroberfläche (UI). Gemäss der Definition von User Experience (engl.) deckt dieses breitere Konzept nicht nur das UI-Design ab, sondern ebenso alle anderen Aspekte der Nutzer-Interaktion. Bei einem Tablet wird das Nutzererlebnis (UX) stark vom gesamten Ökosystem der Plattform beeinflusst. Hier sind all die Anwendungen von dritter Seite besonders wichtig, sowohl was die Zugänglichkeit als auch die Qualität betrifft.

Zwar hat die Software von Amazon im Vergleich zur letzten Jahr ihre Usability massiv verbessert, aber für die Zusatzanwendungen von dritter Seite kann dies nicht gesagt werden. Die meisten Kindle-Apps haben ein ziemlich primitives Design und eine schlechtere Usability als die entsprechenden iPad-Apps.

Die Apple-Propaganda über die quantitative Auswahl in den beiden App-Stores können Sie getrost vergessen. Denn wie viele Wetter-Apps brauchen Sie wirklich? Eine einzige gute Wahl würde ausreichen. Aber für den Kindle sind etliche nützliche Apps immer noch nicht verfügbar und das degradiert das Gesamt-Nutzererlebnis - zumindest im Moment.

Ich habe schon erwähnt, dass viele Kindle-Apps besser auf das 7-Zoll-Tablet passen als auf das 9-Zoll-Tablet. Das bedeutet, dass die UX-Qualität auf dem kleineren Tablet relativ gut ist. In absoluten Grössen ist die gemessene Usability auf dem grösseren Tablet höher, weil grössere Berührungsflächen kürzere Aufgabenzeiten und geringere Fehlerraten nach sich ziehen. Aber gemessen an dem um 50% höheren Preis und den Umständen, die man damit hat, ein grösseres und schwereres Gerät mitzuschleppen, bieten viele Apps keine zusätzlichen Informationen und Funktionen an. Deshalb ist das 9-Zoll-Tablet, was seinen Wert betrifft, ein schlechtes Geschäft.

Vergleicht man den Kindle Fire HD 7-Zoll mit dem iPad Mini, erringt das Apple-Produkt etliche UX-Punkte, weil dafür viel mehr Anwendungen verfügbar sind. Dass man mit dem Gerät mehr Dinge machen kann, ist ein offensichtliches Plus.

Zugleich verliert das iPad Mini viele UI-Punkte, weil diese Apps für einen 10-Zoll-Bildschirm gestaltet wurden und nicht für einen 7-Zoll-Bildschirm. Hier ist also der 7-Zoll-Kindle besser - zumindest wenn man die wenigen Apps nutzt, die bislang für dieses Format optimiert wurden.

Im Ergebnis würde ich Leuten, die ein kleines Tablet wünschen, eher den Kindle Fire HD 7-Zoll empfehlen als das iPad Mini. (Beim vollformatigen Tablet ist das iPad 4 besser als der Kindle Fire HD 9-Zoll.)

Nachdem ich über die grottenschlechte Usability des ursprünglichen Kindle Fire geschrieben hatte, haben viele Kritiker meiner Analyse widersprochen mit Kommentaren wie: "Was erwarten Sie für 200$?" Aber der ursprüngliche Kindle Fire war eben nicht einmal die 200$ wert, weil es ausgesprochen qualvoll war, ihn zu nutzen und für eine Folterung möchte ich überhaupt kein Geld bezahlen. Heute jedoch bringen die 199$ für den Kindle Fire HD 7-Zoll einen besseren Wert als die 329$ für den iPad Mini, sofern Sie nicht eine App benötigen, die nur auf Letzterem verfügbar ist.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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