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19.11.2006

Die Digitale Kluft: drei Stadien

Die wirtschaftliche Kluft ist kein Thema, aber die Usability-Kluft und die Kluft bei der Nutzerstärkung stossen riesige Schichten der Bevölkerung zurück, die dadurch nicht das Potenzial des Internets nutzen können.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 20.11.2006

 

Die "Digitale Kluft" beruht auf der Tatsache, dass gewisse Teile der Weltbevölkerung bedeutend bessere Chancen haben, von der New Economy zu profitieren als andere. Die meisten Kommentatoren betrachten das rein ökonomisch. Allerdings werden in den nächsten Jahren zwei andere Formen der Kluft viel bedeutender werden.

Stadium 1: die wirtschaftliche Kluft

In der einfachsten Form äussert sich die digitale Kluft in der Tatsache, dass es sich einige Menschen nicht leisten können, einen Computer zu kaufen. Obwohl Politiker ständig über diesen Punkt reden, wird er mit jedem Tag bedeutungsloser - zumindest in der industriellen Welt. Wir sollten bedenken, dass für den Durchschnittsbürger in den wirklich armen Entwicklungsländern Computer in den nächsten 20 Jahren oder mehr unerreichbar bleiben werden.

In Gegenden wie Nordamerika, Europa, Australien und den fortgeschrittenen Teilen Asiens ist der Anschaffungspreis eines Computers nicht der Rede wert. Der günstigste Computer von Dell kostet 379$ (inklusive Monitor) und ist 500mal leistungsfähiger als ein Macintosh Plus I, der noch üblich war, als ich meine Doktorarbeit geschrieben habe. Es ist wahr, dass einige Menschen nicht einmal diese 379$ aufbringen können, andererseits werden in den nächsten fünf Jahren die Computer nur noch ein Viertel ihres jetzigen Preises kosten. Schön wär’s, wenn alle sozialen Probleme verschwinden würden, wenn wir nur fünf Jahre abwarten.

Stufe 2: die Usability-Kluft

Viel schlimmer als die wirtschaftliche Kluft ist die Tatsache, dass die Technik weiterhin so kompliziert ist, dass viele Menschen keinen Computer bedienen könnten, selbst wenn sie einen geschenkt bekämen. Viele andere können zwar mit Computern umgehen, aber längst nicht alle Vorteile nutzen, die die moderne Welt ihnen bietet, weil die meisten verfügbaren Dienste für sie zu schwierig sind.

Fast 40% der Bevölkerung sind leseschwach und bis jetzt halten sich nur wenige Websites an die Richtlinien, wie man für leseschwache Nutzer schreibt. Sogar amtliche Websites, die auf ärmere Bürger abzielen, sind normalerweise so kompliziert geschrieben, dass man einen Hochschulabschluss benötigt, um sie verstehen zu können. Die Britische Regierung tat gut daran, viele Informationen auf ihrer Website direct.gov.uk zu vereinfachen. Aber man braucht immer noch ein Abitur, um diese Website leicht zu verstehen.

Lese- und Rechtsschreibschwäche ist das grösste Zugänglichkeitsproblem des Webs, aber niemand kümmert sich um diese gewaltige Nutzergruppe.

Ältere Bürger stehen dem zweitgrössten Zugänglichkeitsproblem gegenüber. Aber auch hier gibt es wenig Interesse für die Richtlinien, wie man Websites seniorengerechter macht. Firmen können sich noch nicht einmal damit entschuldigen, dass es sich nicht lohnen würde, dieses Publikum zu bedienen, denn heutzutage gibt es viele wohlhabende Pensionäre. Und obwohl Senioren die wichtigste verbliebene Wachstumsgruppe bei der Internet-Nutzung sind, sind die Firmen immer noch völlig fasziniert von jungen Nutzern und ignorieren die älteren, reicheren Nutzer, aus denen viel treuere Kunden werden würden - wenn sich nur jemand die Mühe machen würde, ihnen etwas zu verkaufen.

Im Gegensatz zur wirtschaftlichen Kluft, die sich rasch schliesst, kann ich nur wenig Fortschritt bei der Usability-Kluft erkennen. Die Usability verbessert sich lediglich für versierte Nutzer. Für diese Nutzergruppe werden Websites jedes Jahr einfacher, was den Website-Betreibern riesige Profite einbringt. Da sie sich nunmehr an die Richtlinien für das Nutzererlebnis im E-Commerce halten, haben Firmen, die online verkaufen, nun normalerweise Konversionsraten von 2%. Das ist doppelt so hoch wie die Konversionsrate in den Jahren der Blase. Alles grossartig für versierte Nutzer, aber die weniger gebildeten 40% der Nutzer haben von der Verbesserung der Usability nur wenig gesehen. Wir wissen wohl, wie man diesen Nutzern helfen kann - aber wir tun es einfach nicht.

Stadium 3: die Kluft bei der Nutzerstärkung

Wir haben das Wissen, um die Kluft in der Usability zu überbrücken, und ich werde weiterhin hoffen, dass wir das auch erreichen. Bei der Nutzerstärkung dagegen ist es richtig schwer: Selbst wenn Computer und das Internet aussergewöhnlich einfach zu bedienen wären, würde trotzdem nicht jeder alle Möglichkeiten in Anspruch nehmen, die eine solche Technik bietet.

Ungleichheit bei der Beteiligung ist ein Faktor der Kluft bei der Nutzerstärkung, der sich in all den Jahren des Internetwachstums konstant hielt: In sozialen Netzwerken und Community-Systemen tragen 90% der Nutzer nichts bei, 9% beteiligen sich sporadisch und eine winzige Minderheit von 1% ist für die meisten Beiträge verantwortlich.

Für mein Seminar zu grundsätzlichen Richtlinien für Web-Usability haben wir recherchiert, wie die Leute Suchmaschinen nutzen. Wir fanden heraus, dass viele Menschen nicht wissen, wie sie die Suche nutzen müssen, um das Netz wirklich im Griff zu haben. Sie verstehen erweiterte Suchfunktionen nicht, formulieren selten ihre Suchanfrage um und viele wählen unkritisch die ersten Suchergebnisse aus. Ausserdem wissen viele Nutzer nicht, wie Suchmaschinen ihre Auflistungen erstellen, und einige Nutzer wissen noch nicht einmal, dass die beschönigende Kennzeichnung "sponsored links" zu bezahlten Anzeigen führt.

Da es manchen Nutzern an Initiative und Können fehlt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, sind sie auf die Gnade von Entscheidungen anderer Leute angewiesen. Beispielsweise übernehmen manche Leute eher die vorgegebene Startseite ihres Computerverkäufers oder Internet-Anbieters, als eine zu wählen, die besser zu ihren Bedürfnissen passt. Das bedeutet, dass die Aufmerksamkeit des Nutzers verhökert werden kann wie ein Schaf an den Schlachter. Das zeigen Vereinbarungen, bei denen Suchmaschinen Computeranbietern Millionen Dollars dafür zahlen, um bei den ausgelieferten PCs als Startseite voreingestellt zu sein.

Gleichermassen beschränken sich manche Nutzer auf "freie" Netzanwendungen, die Annoncen anzeigen. Was solche Nutzer jedoch nicht realisieren, ist, dass bessere Annoncen (passendere, schlagkräftigere und solche, die mehr Handlungsfreiheit vermitteln) weniger kosten als der Wert der Zeit, die sie damit verschwenden, an den Anzeigen vorbeizuschauen.

Aussichten für einen Brückenbau

Das Internet kann ein stärkendes Hilfsmittel sein, um gute Geschäfte finden, Anbieter zu verwalten oder seine Finanzen und Investitionen zu kontrollieren. Aber genauso gut kann es ein verunsicherndes Umfeld sein, in dem die Menschen betrogen werden. Mitglieder der Internet-Elite realisieren oft nicht, in welchem Ausmass weniger gebildete Nutzer von vielen Verbesserungen ausgespart bleiben, die sie bejubeln und geniessen.

Schlussendlich bin ich extrem optimistisch, was die wirtschaftliche Kluft angeht, die in den Industrieländern rapide verschwindet. Die Usability-Kluft wird sich länger halten, aber wenigstens wissen wir mit ihr umzugehen - es ist nur eine Frage der Entscheidung, es umzusetzen. Was jedoch die Kluft in der Nutzerstärkung angeht, bin ich pessimistisch. Ich befürchte, sie wird in Zukunft noch schwerwiegender werden.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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