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05.07.2009

Respekt für Usability-Fachkompetenz aufbauen

Usability-Gegner behaupten gern, dass sie, weil "die Experten sich nicht einig seien", die Erfahrungen von Sprechern der Nutzerseite ruhig ignorieren und einfach jedes x-beliebige Design, das sie persönlich bevorzugen, verwenden könnten.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 06.07.2009

 

Ein Leser schickte mir kürzliche folgende Nachricht, in der er meinen Rat wegen eines häufigen Dilemmas suchte:

Heute habe ich Ihren Artikel "Vermutungen oder Fakten als Basis für Design-Empfehlungen" gelesen, nachdem es auf der Arbeit einen furchtbaren Zank mit Inhaltsexperten darüber gegeben hatten, warum deren Inhalte es nicht schaffen, die Bedürfnisse der Webleser wirklich zu erfüllen.

Als Leiter des Web-Bereichs einer kleinen Regierungsbehörde muss ich mich immer mit den subjektiven Meinungen derjenigen herumärgern, die allein für die Inhalte zuständig sind. Diese Meinungen knallen sie mir an den Kopf, während sie stur alle meine Vorschläge ablehnen:

  • "Tja, wissen Sie, ich mag das einfach nicht."
  • "Ich würde da nicht klicken, also werden die Nutzer das auch nicht tun."
  • "Oh, die werden schon wissen, was das bedeutet, auch wenn Ihnen das nicht klar ist."

Als ich kürzlich einen Ihrer Artikel zitierte, um meinen Standpunkt zu untermauern, hiess es nur: "Belege gibt es immer, um jede denkbare Meinung zu stützen." Dass ich ihnen Fakten vorgelegt hatte, schien sie um kein Iota zu beeindrucken. Vielmehr schienen sie verärgert, dass ich Daten gefunden hatte, die meine Argumente belegten, und liessen kein bisschen an ihrer Position rütteln.

Haben Sie noch irgendwelche Ratschläge, wie ich Kollegen - die keine Usability-Experten sind - dazu bekommen kann, mir mit ihren Inhalten zu vertrauen? Wie kann ich vermitteln, dass das, was ich tue, eine spezielle Fachkompetenz für sich ist? Wie gewinne ich den Respekt meiner Kollegen als ihr Stratege für Web-Inhalte?

Leider ist diese Situation nicht nur in Regierungsbehörden nicht ungewöhnlich, sondern auch in den meisten grossen Firmen. Hier kommen einige unterschiedliche Themen zum Tragen, und für jedes davon braucht man eine eigene Medizin.

Die Unterschiede zwischen den Nutzern und den Projektbeteiligten

Das erste Übel hier ist, dass die Inhaltsverantwortlichen sich auf ihre eigenen Meinungen und Vorlieben verlassen. Die wichtigste Medizin dagegen besteht aus dem Hinweis, dass sie auf fast jeder Ebene völlig unrepräsentativ für die Zielgruppe sind:

  • Weil sie für ein bestimmtes Thema verantwortlich sind, wissen sie offensichtlich wesentlich mehr als die Zielgruppe über all die damit zusammenhängenden Aspekte, vom Hintergrundwissen bis hin zu spezieller Fachterminologie.
  • Da sie als Insider in Ihrem Betrieb arbeiten, kennen sie sich auch damit aus, wie die Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche der einzelnen Abteilungen strukturiert sind. (Ebenso kennen sich Produktmanager nicht nur mit ihren eigenen Produkten aus, sondern wissen auch, wie diese sich in die gesamte Produktpalette der Firma einordnen.) Das ist häufig die wichtigste Ursache dafür, dass Informationsarchitekturen versagen, wie wir das bei unseren Tests von Websites und Intranets erleben.
  • Als Profis - in der Regel mit Universitätsabschlüssen - sind sie vielleicht kleverer und gebildeter als viele Menschen in der Zielgruppe. Dies variiert mit Sicherheit bei den unterschiedlichen Websites, ist aber für gewöhnlich der Fall bei Websites, die eine breite Verbrauchergruppe ansprechen, Senioren oder Empfänger von Sozialleistungen.
  • Manchmal sind die Inhaltsverantwortlichen auch wesentlich computererfahrener als die Zielgruppe und haben somit ein besseres Verständnis von Computern und Internetkonzepten. Ganz ähnlich verfügen auch die Entwickler von Anwendungsdesigns oft über wesentlich besseres technologisches Können als die Nutzer.
  • Zuguterletzt sind, da es nun mal ihr Projekt ist, die Inhaltsverantwortlichen auch wesentlich motivierter als die Nutzer, sich für die Inhalte zu interessieren. Und je unmotivierter die Leute sind, desto eher neigen sie dazu, einen Text zu überspringen, um nur die wichtigsten Informationen herauszuziehen.

Aus all diesen Gründen ist es völlig egal, was die Inhaltsverantwortlichen selber mögen oder verstehen; das Verhalten der realen Nutzer ist wahrscheinlich vollkommen anders.

Zum Glück sind diese Unterschiede jedem recht leicht zu erklären, der bereit ist, objektiv an die Sache heranzugehen. Zumal diese Unterschiede den Inhaltsexperten schmeicheln, da sie ihr überragendes Wissen hervorheben.

Erst wenn sie es selbst sehen, lassen sich Ungläubige bekehren

Sobald Sie erfolgreich kommuniziert haben, dass die Inhaltsverantwortlichen ihre eigenen Präferenzen nicht auf die Zielgruppe übertragen können, bleibt eine Frage jedoch noch offen: Wie sollte Usability denn dann beurteilt werden?

Es ist zwar gut, externe Forschungsergebnisse anführen zu können, aber es bleibt eine traurige Tatsache, dass nichts so überzeugend ist, wie die eigenen Nutzer zu testen. Selbst wenn unzählige externe Studien ein bestimmtes Phänomen identifiziert haben, werden viele Leute nicht überzeugt sein, bis sie es nicht bei ihrem eigenen Projekt gesehen haben.

Das ist einer der Hauptgründe, warum ich immer eigene Testreihen empfehle, selbst wenn Sie eine recht einfache Website entwerfen und fast alle Ihrer Testergebnisse nur die veröffentlichte Literatur widerspiegeln. Wenn sie es einmal mit eigenen Augen gesehen haben, verlassen die meisten Skeptiker das Labor hochmotiviert, um ihre Methoden zu ändern (und, viel wichtiger, die Website, damit sie endlich funktioniert).

Das ist auch der Grund, warum Sie Himmel und Erde in Bewegung setzen sollten (oder zumindest kostenlose Pizza anbieten), um alle Teilhaber dazu zu bewegen, einige Nutzersitzungen zu beobachten. Sie können Ihnen auch ein wenig weiter schmeicheln, indem Sie erklären, wie schwer es sei, ohne ihr Mitwirken, die Forschungsergebnisse korrekt zu interpretieren. (Das ist keine Lüge, aber der Hauptgrund für die Einladung ist der, dass sie den Studienergebnissen auch wirklich Glauben schenken werden.)

Einfache Nutzerstudien sind günstig zu bekommen, und es ist fast immer lohnenswert, einige Tage damit zu verbringen, eine Handvoll repräsentativer Nutzer dabei zu beobachten, wie sie sich in Ihren Inhalten zurechtfinden.

Welchen Fakten man vertrauen sollte

Es stimmt wohl, dass "es Beweise gibt, um auch wirklich jede Meinung zu stützen", aber das bedeutet nicht, dass man die Fakten ignorieren sollte. Schliesslich sind manche Fakten eindeutig besser als andere.

Die grundlegenden Tatsachen darüber, wie die Leute im Internet lesen, sind äusserst gut fundiert, und buchstäblich Hunderte von Studien haben unsere ursprünglichen Ergebnisse im Laufe der letzten 12 Jahre immer wieder reproduziert.

Ebenso verhält es sich mit unseren Usability-Richtlinien: Die meisten sind von anderen unabhängigen Studien bestätigt worden. Jeder, der sich die Mühe macht, eine Studie durchzuführen, wird das Gleiche entdecken, weil es einfach keine Usability-Geheimnisse gibt - es geht einfach darum hinzugucken.

Gleichwohl gibt es, während die meisten Usability-Ergebnisse ziemlich in Einklang miteinander stehen, auch abweichende Resultate. Die Leute, die sich nicht besser auskennen, werden bei ihrer Internetsuche über solche Ergebnisse stolpern und behaupten, dass die Experten alle verschiedener Meinung seien. Auch wenn da etwas dran sein mag, ist das kein Freifahrschein dafür, Usability-Daten zu ignorieren und irgendeinen beliebigen Weg zu verfolgen.

Stattdessen sollten Sie die Beweise abwägen. Auf der einen Waagschale haben Sie Hunderte von Studien von Experten aus den unterschiedlichsten Branchen und Ländern; sie alle sind sich im Grossen und Ganzen einig und belegen ihre Ergebnisse oft mit umfangreichen Berichten. Auf der anderen Waagschale haben Sie ein paar abweichende Beiträge (plus viele Vermutungen, aber wie zuvor schon besprochen, sollten Sie Experten ignorieren, die ihre Theorien nicht an realen Menschen testen). Dieses einfache Abwägen gibt häufig schnell den Ausschlag in Richtung des Konsenses.

Abweichende Usability-Ergebnisse werden häufig durch Folgendes verursacht:

  • Schwache Forschungsmethodik. Wenn Sie nicht gerade ein Experte in Sachen Usability-Methodik sind, kann dies schwer zu bewerten sein, aber häufige Probleme heraufbeschwören.
  • Nichtrepräsentative Nutzer. Wissenschaftliche Studien zum Beispiel neigen dazu, Studenten zu testen, anstatt Menschen, die die Zielgruppe besser verkörpern.
  • Unrealistische Aufgaben, die zu eng sind im Vergleich zu dem freien "Umherwandern", das die reale Nutzernavigation ausmacht. Solche unechten Aufgaben sind besonders bei Eyetracking-Untersuchungen verbreitet, da diese leichter durchzuführen sind, wenn man die Nutzer direkt zu den Seiten führt, von denen ich eine bildliche Darstellung des Klickverhaltens bekommen will. Die Leute verhalten sich jedoch komplett anders, wenn sie direkt in ein Problem gestossen werden und nicht von sich aus auf eine bestimmte Seite geraten. (Um zum Beispiel Eyetracking-Untersuchungen an einem Warenkorb durchführen zu können, sollten Sie die Nutzer zunächst einfach nur zum Einkaufen auffordern.)
  • Voreingenommene Untersuchungsleitung, bei der der Forschungsleiter zu viel redet und die Nutzer auf eine Art und Weise leitet, die ihr Verhalten verändert.
  • Statistische Zufälle. Wenn Sie sich auf ein Signifikanzlevel von 5% verlassen, dann basieren 1/20 Ihrer Ergebnisse nur auf zufälligen Schwankungen und repräsentieren keinen wirklichen Effekt. Leider sind die 19 anderen Studien, die bestehende Weisheiten korrekt bestätigen, langweilig und erzeugen wenig Nachrichten. Das 20. - ungültige - Ergebnis dagegen findet man leicht in einer Suche in heiss umstrittenen Blog-Einträgen.
  • Zweitrangige Usability-Berater, die versuchen Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie einfach von der Norm abweichen.
  • Ungewöhnliche Umstände. Ich bezeichne etwas als Usability-Richtlinie, wenn es für ca. 90% aller Designs zutrifft. Demnach läuft in etwa 10% der Fälle etwas anders, weil der Entwurf ein Problem anspricht, das extrem von dem typischen Fall abweicht. Die Leute denken immer, ihr Projekt sei einzigartig. In 9 von 10 Fällen ist es jedoch nicht anders genug, als dass die üblichen Usability-Richtlinien nicht greifen würden.

Es zahlt sich oft aus zu behaupten, man habe etwas komplett Neues herausgefunden, etwas, das allem vorherrschenden Wissen widerspricht. Seminare verkaufen sich besser, wenn sie behaupten, "Geheimnisse" oder "ganz neue, ganz andere" Ergebnisse aufzudecken. Ich gebe zu, dass auch ich immer auf neue Ergebnisse in unseren Untersuchungen hoffe, weil ich weiss, dass sie mehr Geld einbringen würden. Aber Jahr für Jahr bleiben die Usability-Ergebnisse ziemlich stabil und konstant, und ich möchte lieber die Wahrheit berichten, als den Umsatz zu steigern. Zum Glück gibt es auf dieser Welt genug ehrenhafte Usability-Experten, so dass die Ergebnisse der meisten anderen Berichte den unseren sehr ähnlich sind.

Wenn Sie beurteilen wollen, welchen Ergebnissen Sie ihr Vertrauen schenken möchten, schauen Sie sich die wirtschaftlichen Anreize an. So sind zum Beispiel Forschungen von Werbeagenturen zur Wirksamkeit von Internetwerbung grundsätzlich fragwürdiger als Untersuchungen von Leuten, denen es egal ist, ob Sie mehr oder weniger Geld für Werbung ausgeben. In gleicher Weise bedeutet die Belohnung für "neue und andere" Ergebnisse, dass Studien, die bereits bestehendes Wissen bestätigen, inhärent mit grösserer Wahrscheinlichkeit zuverlässig sind.

Respekt aufbauen

Bis jetzt habe ich alle logischen Argumente dafür angeführt, warum die Leute Ihrem Rat folgen sollten. Aber Logik bringt einen nur bis zu einem gewissen Punkt. Letztendlich müssen Ihre Kollegen Ihre fachliche Kompetenz respektieren, so dass Sie sie nicht bei jeder Entscheidung unter einem Berg von externen Untersuchungsergebnissen begraben müssen.

Respekt entsteht durch bewiesene Leistung. Sobald die Inhaltsverantwortlichen sehen, wieviel besser die Kunden auf Websites reagieren, die gemäss vorherrschender Usability-Richtlinien geschrieben und entworfen wurden, werden sie auch anfangen, Sie mehr zu respektieren. Leider ist diese Situation wie bei der Frage nach der Henne und dem Ei: Sie können den Wert Ihrer Ratschläge nur demonstrieren, wenn diese auch umgesetzt werden.

Deshalb dauert es eine Weile, Respekt aufzubauen. Es gibt zwei Wege, die Situation schrittweise zu verbessern:

  • Bedienen Sie sich auf jeden Fall der Logik, um zu erreichen, dass einige Ihrer Argumente akzeptiert werden. Logik allein wird Ihnen vielleicht noch nicht den Sieg einbringen, aber in den meisten Betrieben wird sie auch nicht komplett ignoriert.
  • Führen Sie Nutzertests durch und setzen Sie alles daran, andere dazu zu bewegen, einige der Sitzungen mitzuerleben. Wenn Ihre Kollegen sehen, dass Sie diesmal Recht hatten, werden sie Ihnen auch beim nächsten Mal mehr glauben.

Wenn das entsprechende Budget vorhanden ist, kann auch eine dritte Vorgehensweise helfen: Laden Sie einen externen Berater ein oder geben Sie Ihren Kollegen einen Stoss, doch mal ein Usability-Seminar zu besuchen (zum Beispiel unser "Grundlegende Richtlinien für Web-Usability" :-)

Wenn Ihre Kollegen hören, dass international anerkannte Fachmänner und -frauen das gleiche sagen wie Sie, besteht eine grössere Chance, dass sie in Zukunft auf Sie hören werden.

Das alles ist ein bisschen wie Bergsteigen. Man schafft es nicht binnen eines Tages von der Geringschätzung bis zum Respekt, aber Sie können Respekt Schritt für Schritt wachsen lassen, indem Sie kontinuierlich gute Arbeit leisten. Dies ähnelt sehr der Art und Weise, wie eine ganze Organisation "Usability-Reife" aufbaut: ein Schritt nach dem andern.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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