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27.03.2005

Usability-Anhänger gewinnen: Strategiewechsel auf halber Strecke

Die Strategien, mit denen man erste Usability-Anhänger gewinnt und eine Usability-Gruppe innerhalb des Unternehmens etabliert, unterscheiden sich von den Strategien, die man braucht, um eine hoch entwickelte Usability-Kultur reifen zu lassen.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 28.03.2005

 

Paradoxerweise ist es umso wahrscheinlicher, dass Sie Ihre Strategie wechseln müssen, je erfolgreicher Sie bereits waren, Usability-Anhänger in Ihrer Organisation zu gewinnen. Der Ansatz, mit dem Sie Ihr Unternehmen von miserabler Usability zu einem anständigen Design tragen, ist ein anderer als der, den Sie brauchen, um Gutes grossartig werden zu lassen.

Während Usability innerhalb einer Organisation an Akzeptanz gewinnt und enger mit dem Entwicklungsprozess verknüpft wird, durchläuft ein Unternehmen eine ganze Reihe von Reifestadien. Wenn Sie der Nutzerfürsprecher oder Usability-Manager des Unternehmens sind, ist es eine Ihrer Hauptaufgaben, das Unternehmen ins jeweils nächsthöhere Stadium zu treiben.

Das frühe Stadium: Vom Nutzerfürsprecher zur Usability-Gruppe

Ausgangspunkt: Ein oder zwei Personen im Unternehmen kümmern sich um Usability, aber die Beschäftigung mit Usability-Fragen ist noch lange nicht ihr Hauptjob. Sie beginnen also mit kleinen Schritten, indem Sie für gewöhnlich nebenher ein paar Nutzertests durchführen.

Das angestrebte Ziel: eine offizielle Usability-Gruppe samt Verantwortlichem, Programm und Budget zu etablieren, um Usability-Aktivitäten durchführen zu können.

In diesem frühen Reifestadium sind nur wenig Ressourcen verfügbar, und Usability ist nicht wirklich ein Anliegen des Unternehmens. Auf halbem Wege dieses Wachstumsprozesses hat das Unternehmen normalerweise ein paar Vollzeit-Usability-Spezialisten, aber sie haben nicht das Recht, über Usability zu bestimmen, weil sie keinen anerkannten Platz im Organigramm haben.

Unter solchen Umständen ist es nicht möglich, den gesamten Lebenszyklus des nutzerzentrierten Designs (engl. UCD für "user centered design") zu unterstützen, und es wäre vergebliche Liebesmüh, wenn die paar einsamen Usability-Spezialisten das versuchten. Ein Unternehmen kann man nicht mit einem Stoss durch mehrere Reifestadien treiben.

An diesem Punkt sollte die Strategie wie folgt ansetzen:

  • Usability-Methoden: Führen Sie kleine, qualitative Nutzertests durch. Verzetteln Sie sich nicht mit fortgeschrittenen Methoden wie Feld- oder Benchmark-Studien, weil Sie dafür weder die Zeit noch das Geld haben werden (und vielleicht auch zu wenig Expertise).
  • Stadium im Lebenszyklus: Sie bringen Usability an der Stelle ein, wo der Projektmanager sie gerade benötigt. Das ist normalerweise recht spät im Projekt, nämlich dann, wenn der Manager erkennt, dass es Probleme mit der Nutzeroberfläche gibt. Wir wissen alle, dass es besser ist, wenn man mit Usability-Aktivitäten früher beginnt und Nutzerdaten die Richtung des Designprozesses mitbestimmen können. Leider passiert das nur dann, wenn der Projektmanager ein leidenschaftlicher Usability-Anhänger ist - und das wird in einem frühen Reifestadium des Unternehmens kaum je der Fall sein.
  • Projektauswahl: Arbeiten Sie in jenen Projekten, die mit Ihnen zusammenarbeiten wollen. Wenn Sie kein organisatorisches Mandat haben, über die Usability zu bestimmen, können Sie sich nicht in ein Projekt hineindrängen, wo Sie zwar benötigt würden, das Projekt den Bedarf aber selbst noch nicht erkannt hat. Viel eher können Sie Ihre Empfehlungen dort unterbringen, wo die Manager Ihre Resultate wünschen.
  • Methodologisches Wachstum: Richten Sie ein Usability-Labor ein, etablieren Sie Methoden, um Testteilnehmer zu rekrutieren, und definieren Sie für Ihren Bereich standardisierte Testaufgaben. Mit einer solchen Infrastruktur können Sie ohne grosse Vorbereitung neue Tests anlaufen lassen und folglich mehr Tests durchführen.

Im frühen Stadium heisst die Parole: opportunistisch sein beim Einsatz der knappen Ressourcen. Sie können noch nicht den ganzen prachtvollen Usability-Prozess durchlaufen, wie er empfohlen wird, weil es Ihrer Organisation am nötigen Engagement mangelt. Statt gegen Windmühlen anzukämpfen, sollten Sie auf leichte Gewinne aus sein.

Zum Glück hängen in einem Unternehmen ohne Vergangenheit in Sachen Usability die Früchte sehr tief. Selbst mit einer Holzhammer-Usability-Aktivität in der "falschen", weil späten Projektphase wird die endgültige Nutzeroberfläche einer Website häufig um 100% oder mehr verbessert (etwas weniger bei anderen Arten von Nutzeroberflächen).

Sobald diese einfach zu erreichenden Usability Verbesserungen dem Unternehmen substanzielle Geschäftsgewinne eingebracht haben, ist das Management normalerweise daran interessiert, eine offizielle Usability-Gruppe zu gründen.

Das späte Stadium: Von der Usability-Gruppe zur Usability-Kultur

Ausgangspunkt: Es gibt eine offizielle Usability-Gruppe mit Verantwortlichem, Programm und Budget, um Usability-Aktivitäten durchzuführen.

Angestrebte Ziele: eine ganze Abteilung für Nutzerakzeptanz (engl. User Experience) mit verschiedenen Untergruppen für nutzerzentrierte Aktivitäten zu etablieren; das gesamte Unternehmen und sämtliche Entwicklungsprojekte auf einen formellen nutzerzentrierten Designprozess zu verpflichten, für den eine spezielle Abteilung für Nutzerakzeptanz zuständig ist.

Normalerweise wird Usability in einem Unternehmen "etabliert", ohne dass die Usability-Gruppe die komplette Zuständigkeit für die gesamte Nutzerakzeptanz bekommt. Die Usability-Gruppe wird oft als Service-Organisation begriffen, die je nach aktuellem Bedarf den Projektteams Usability-Expertise liefert. In diesem Stadium verfügen Usability-Gruppen selten über ausreichend Ressourcen, um alle Projekte mit den Leistungen zu versorgen, die für den empfohlenen nutzerzentrierten Designprozess erforderlich sind.

Je reifer das Unternehmen, desto mehr Ressourcen stehen für Usability zur Verfügung, aber nach wie vor müssen Prioritäten gesetzt werden. Im früheren Stadium waren die Prioritäten opportunistisch; jetzt müssen sie selektiver werden. Statt leicht zu erreichende Gewinne einzufahren, müssen Sie jetzt spektakuläre Usability-Erfolge erzielen, um den Vorstand davon zu überzeugen, die Organisation in das angestrebte Endstadium zu bewegen.

Zu diesem Zeitpunkt sollte Ihre Strategie folgendermassen aussehen:

Usability-Methoden: Fahren Sie damit fort, einfache Nutzertests durchzuführen, um schlechte Designs zu bereinigen. Das werden Sie vermutlich immer tun müssen. Jetzt aber sollten Sie mehr Ressourcen in tiefer gehende Studien stecken, die neue Einsichten vermitteln und so zu neuen Funktionselementen oder zu Paradigmenwechseln im Design anregen. Führen Sie im Frühstadium der Projekte Studien durch, z.B. Feldstudien oder Wettbewerbsstudien, um die Richtung des Designs mitzubestimmen. Sammeln Sie Usability-Messgrössen aus Benchmark-Studien. Verfolgen Sie diese Daten über die Zeit hinweg, um den Return on Investment von Usability zu beziffern.

Stadium im Lebenszyklus: Üben Sie Druck aus, so dass in neuen Projekten früher mit Usability-Aktivitäten begonnen wird. Stellen Sie für Schlüsselprojekte genügend Ressourcen bereit, um sowohl frühe Studien vor dem Design (für erfolgsträchtige Einsichten beim Skizzieren des Projekts) als auch mehrere iterative Testrunden durchführen zu können (damit auch das Design aufpoliert werden kann, und nicht bloss die schlimmsten Dellen und Löcher ausgebessert werden).

Projektauswahl: Konzentrieren Sie sich auf Projekte mit grosser Wirkung, bei denen die Vorteile substanzieller Usability-Verbesserungen enormen finanziellen Wert haben, so dass sie dem Vorstand ins Auge springen. Besser, Sie versorgen ein paar wichtige Projekte mit dem kompletten Lebenszyklus, als für alle Projekte in letzter Sekunde Tests mit geringerer Wirkung durchzuführen. Machen Sie ein durchschlagendes Intranet-Werkzeug wie das Mitarbeiterverzeichnis zu Ihrem "Baby" und erzeugen Sie dadurch ein schlagendes Beispiel für atemberaubende Usability, das jedermann im Betrieb täglich ausprobieren kann.

Methodologisches Wachstum: Sobald Sie genug Wettbewerbs-, Feld- und begleitende Studien durchgeführt haben, verallgemeinern Sie Ihre Erkenntnisse und erstellen Sie Usability-Richtlinien für die Art von Nutzeroberflächen in Ihrer Organisation. Entwickeln und pflegen Sie offizielle Designstandards für die Nutzeroberflächen. Richtlinien und Standards sorgen für Bekanntheit Ihrer Usability-Ergebnisse über den Rahmen von Einzelstudien Ihrer Gruppe hinaus.

Ziel im späten Stadium ist es, Usability ganz mit der Entwicklung zu verzahnen, damit es zur natürlichsten Sache der Welt wird, Projekte mit Usability-Aktivitäten zu beginnen, noch bevor man mit dem Design anfängt. Die Organisation braucht eine Usability-Kultur. Alle Manager sollten zumindest die grundlegenden Schritte im nutzerzentrierten Design Lebenszyklus begreifen - weil der Lebenszyklus der Weg schlechthin ist, den jedes Projekt gehen muss. Damit das aber passiert, müssen die Manager zuerst diverse Beispiele gesehen und erkannt haben, welchen zusätzlichen Wert hochentwickelte Usability im Vergleich zu Last-Minute-Tests schafft.

Weil Nutzertests so billig und profitabel sind, passiert es leicht, dass man im mittleren Reifestadium stecken bleibt, wo Nutzertests häufig sind, tiefergehende Forschung aber noch nicht etabliert ist. Um darüber hinauszukommen, müssen Sie zeigen, dass Verbesserungen von 100% nichts sind im Vergleich zu dem, was möglich ist. Um eine 1000-prozentige Verbesserung der Projektergebnisse zu erzielen, ist zwar mehr Arbeit nötig als für eine einfache Verbesserung um 100% - aber das ist es, was Sie tun sollten. Der Weg nach vorn besteht darin, sich auf ein paar Projekte mit grosser Wirkung zu konzentrieren, und dort volle Treffer zu landen.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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