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10.06.2007

Veränderung oder Stabilität bei Web-Usability-Richtlinien

Bemerkenswerte 80% der Ergebnisse aus Web-Usability-Studien der 1990er Jahre sind heute immer noch gültig.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 11.06.2007

 

Da Web-Usability-Tests in ihr 14. Jahr eintreten, lohnt es sich nachzufragen, inwieweit frühere Ergebnisse noch dem heutigen Stand der Nutzerforschung entsprechen.

Vor 10 Jahren habe ich einen Beitrag über die Veränderungen in der Web-Usability von 1994 bis 1997 geschrieben. Einige meiner ursprünglichen Ergebnisse waren kaum drei Jahre nach ihrer Veröffentlichung nicht mehr gültig. Aber die meisten Richtlinien von 1994 stimmten 1997 noch - und sie sind heute immer noch korrekt.

Wenn man bedenkt, wie primitiv die Websites 1994 waren, ist es erstaunlich, dass die meisten dieser ursprünglichen Usability-Richtlinien für heutige Websites immer noch gelten. Das ist noch eindrucksvoller, wenn man bedenkt, dass das Web zurzeit 120 Millionen Websites umfasst und dass ich bei meinem ersten Test ganze 5 Websites mit 3 Nutzern getestet habe. Das ungewöhnlich haltbare Resultat dieser winzigen Pionierstudie bezeugt die Macht der qualitativen Usability-Methode.

1999 habe ich das Buch Designing Web Usability: The Practice of Simplicity (Deutsche Version: Erfolg des Einfachen) veröffentlicht. Die Richtlinien dieses Buches basierten auf Tests von 100 Websites mit 200 Nutzern. In den fünf Jahren zwischen meinen ersten Tests und diesem ersten umfassenden Buch habe ich jede Menge über Web-Usability gelernt, was es mir möglich gemacht hat, guten Rat für erfolgreiches Web-Design zu geben.

Neubewertung alter Web-Usability-Richtlinien

Es ist ratsam nachzufragen, ob die Richtlinien im Buch Designing Web Usability immer noch gelten. Schliesslich basieren unsere gegenwärtigen Web-Usability-Richtlinien auf Tests mit 831 Websites und 2744 Nutzern in 16 Ländern. Die neuere Forschung ist sehr viel gründlicher als die Studien, die ich in den 1990er Jahren durchgeführt habe und hat mehr als tausend neue Richtlinien ergeben.

Mein neuestes Buch Prioritizing Web Usability (Deutsche Version: Web Usability) enthält ein Kapitel, das die Richtlinien aus den 1990er Jahren im Lichte der neueren Forschung überprüft. (Der Rest des Buches bewertet Tausende von neuen Usability-Richtlinien nach dem Kriterium ihrer Bedeutung für den Geschäftserfolg.)

In dem neuen Buch biete ich zu jeder der frühen Web-Usability-Richtlinien einen Abschnitt an, in dem ich sie im Verhältnis zu heutigen Forschungsergebnissen bewerte. Ich zeichne jede Richtlinie mit einer Anzahl von Totenköpfen aus, je nachdem wie wichtig sie für heutige Nutzer ist:

  • Kein Totenkopf bedeutet, das Thema ist heute kein Problem mehr.
  • 1 Totenkopf zeigt Richtlinien an, die heute nur noch am Rande eine Rolle spielen.
  • 2 Totenköpfe symbolisieren Usability-Probleme mittlerer Bedeutung.
  • 3 Totenköpfe zeigen Themen an, die bei heutigen Nutzertests immer noch grössere Probleme aufwerfen.

Als Ausgangslinie wollen wir die potenziell mögliche Gesamtzahl von Totenköpfen annehmen, für den Fall, dass alle Richtlinien der 1990er Jahre grössere Probleme geblieben wären und drei Totenköpfe bekommen hätten. In Wirklichkeit haben etliche Richtlinien keine, einen oder zwei Totenköpfe bekommen, weil verschiedene Themen mit der Zeit weniger problematisch geworden sind.

Warum sich Richtlinien ändern

Ich streiche Totenköpfe von einer Richtlinie aus drei Gründen, denn auf drei Arten kann ein Usability-Thema in der modernen Welt kleiner werden.

  • Technische Verbesserungen: Bessere Browser, eine bessere Bandbreite oder andere aufgepeppte Techniken sorgen dafür, dass bestimmte Design-Ideen leichter zu verdauen sind.
  • Anpassungen im Verhalten: In dem Masse, wie sich die Leute an bestimmte Interaktionstechniken gewöhnen, passen sie ihr Verhalten an, wodurch die Techniken leichter zu nutzen sind.
  • Die Designer halten sich zurück: Ein Design-Element kann prinzipiell weiterhin problematisch sein, aber die Web-Designer lernen, seine widerwärtigsten Formen zu vermeiden. Das Element verursacht also weniger Probleme, einfach weil es weniger oft missbraucht wird.

Das folgende Kuchendiagramm zeigt, wie sich die ursprünglichen "Totenköpfe" (d. h. Usability-Probleme) aus den 1990ern heute verteilen:

heutige Verteilung der ursprünglichen Usability-Problemen
Schicksal von Web-Usability-Richtlinien der 1990er Jahre

Schlussfolgerungen aus dem Kuchendiagramm:

  • Über die Hälfte der Usability-Ergebnisse der 1990er sind noch in Kraft.
  • Nur 10% der ursprünglichen Usability-Themen haben sich durch verbesserte Technik erledigt. Doch, es hat durchaus viele Weiterentwicklungen der Web-Technik gegeben, aber normalerweise haben die sich nicht mit den wirklichen Problemen beschäftigt, die dazu führen, dass Nutzer verloren gehen, Websites fehlinterpretieren oder verärgert werden.
  • Änderungen im Nutzerverhalten haben mehr Totenköpfe verschwinden lassen als technische Verbesserungen. Im Prinzip denke ich, dass es unvernünftig ist zu erwarten, dass sich die Menschen an die Computer anpassen, aber es geschieht dennoch und das ist ein Weg, auf dem umständliche Nutzeroberflächen eventuell leichter zu nutzen werden. Das Web ist heute für die Leute leichter zu nutzen als 1994, weil die Leute mehr Erfahrung mit seinen Gebräuchen haben, auch wenn sie schlecht sind.

Wir wollen zum Schluss das Kuchenstück betrachten mit der Aufschrift "Die Designer halten sich zurück". Von den Richtlinien der 1990er Jahre haben 22% heute an Bedeutung verloren, weil die Designer gelernt haben, sich beim Missbrauch zurückzuhalten. In Wirklichkeit werden die zugrunde liegenden Richtlinien dadurch nicht ungültig; sie werden nur weniger wichtig.

Nehmen wir zum Beispiel die Richtlinie, Flash-Intros (splash screens) zu vermeiden. Das meistverkaufte Webdesignbuch der 1990er Jahre hat sich stark für Flash-Intros eingesetzt, was der Grund dafür war, dass ich 1999 so energisch dagegen auftreten musste. Dennoch erwähne ich Flash-Intros in meinen heutigen Kursen nicht mehr, weil heutzutage kein ernsthafter Designer mehr eine Website mit einem Flash-Intro einleiten würde. Aber ein paar Kunden fragen immer noch nach Flash-Intros und deshalb lassen wir die Richtlinie in den Büchern, damit die Designer auf dokumentierte Usability-Forschung verweisen können, wenn sie ihre Kunden vor diesem ärgerlichen Design-Element warnen.

Mit anderen Worten, diese 22% der alten Usability-Probleme, die wegen der Zurückhaltung heutiger Designer vermieden werden, sind wie Blindgänger - sie können jede Minute hochgehen, wenn zukünftige Designer ihre Zurückhaltung aufgeben oder schlecht beratene Kunden auf schlechtem Design bestehen.

Die Stabilität von Usability-Richtlinien

Wenn wir die Punkte, die immer noch in Kraft sind, zu denen hinzuzählen, die für die Zurückhaltung der Designer stehen, ergibt sich, dass 80% der Web-Usability-Einsichten der 1990er Jahre heute immer noch akute oder potenzielle Probleme sind.

Ich denke, 80% sind eine ziemlich gute Leistung, wenn man bedenkt, dass mein Buch von 1999 auf den Daten von 200 Nutzern beruhte.

Auf der anderen Seite können wir Web-Usability-Richtlinien mit der Haltbarkeit der Design-Richtlinien für Anwendungen von 1986 vergleichen. Als ich diese Richtlinien untersucht habe, habe ich herausgefunden, dass 90% davon immer noch gelten. Diese höhere Quote ist umso eindrucksvoller, wenn man bedenkt, dass die Anwendungs-Richtlinien 13 Jahre älter sind als die meine Web-Richtlinien. Aus zwei Gründen halten Anwendungs-Richtlinien länger als Web-Richtlinien:

  • Die Richtlinien von 1986 basierten auf 25 Jahren Forschung in der Anwendungs-Usability. Die dort zitierten Studien reichen zurück bis ins Jahr 1961. Meine Web-Richtlinien von 1999 dagegen basierten nur auf 5 Jahren Forschung. Dennoch hat es sich gelohnt, das Buch bereits 1999 zu veröffentlichen, statt damit weitere 20 Jahre zu warten, denn es war undenkbar, den furchtbaren Stand der Web-Usability noch bis 2019 hinzunehmen, ohne etwas dagegen zu tun.
  • Das Internet hat sich schneller verändert als Computer im Allgemeinen. Zwar betreffen die meisten dieser Änderungen nicht die Usability-Richtlinien, aber einige tun es doch. Als Folge mussten wir die frühen Web-Richtlinien in grösserem Ausmass modifizieren als es bei Usability-Richtlinien normalerweise üblich ist.

Im Ganzen aber gilt, ob es nun um Anwendungs- oder Web-Richtlinien geht: Usability-Richtlinien bleiben jahrzehntelang bemerkenswert stabil. Das liegt daran, dass sie von menschlichen Eigenschaften abhängen, die sich nicht so schnell ändern.

Neuere Usability-Richtlinien werden sich wahrscheinlich sogar als noch stabiler erweisen als die Ergebnisse der 1990er Jahre. Zumindest haben wir noch keine einzige Richtlinie revidiert, die wir in der Forschung seit 2000 entdeckt haben. Jedes Mal, wenn wir etwas erneut studieren, werden die Richtlinien bekräftigt. Wir entdecken immer wieder neue Richtlinien und ziehen immer wieder solche aus den 1990er Jahren zurück, aber alle Richtlinien, die wir seit 2000 dokumentiert haben, bleiben in Kraft. Ich bin mir sicher, dass wir eines Tages ein Testergebnis bekommen, nach dem wir eine davon zurückziehen müssen, aber bis jetzt ist das noch nicht passiert.

Aus der Geschichte lernen

Die Geschichte zeigt, dass die Gegner der Usability niemals aufgeben, auch wenn sie sich in ihrer Schlacht ewig auf dem Rückzug befinden.

Eines der hinterlistigsten Argumente der Feinde lautet wie folgt: "Ja, die Usability-Befürworter hatten in der Vergangenheit Recht, aber heute liegen sie falsch." Auf diese Weise erkennen sie die Validität etablierter Prinzipien an, erheischen aber etwas Glaubwürdigkeit für ihren Widerstand gegen die heutige Nutzerforschung.

  • 1995 haben die Feinde der Usability gesagt, dass Nutzertests möglicherweise ein guter Weg seien, um Anwendungen zu verbessern, aber dass sie bei Websites nicht funktionierten. (Ironischerweise sagen dieselben Leute heute genau das Gegenteil: dass Usability-Methoden möglicherweise bei Websites funktionierten, aber nicht bei Anwendungen.)
  • 2000 haben die Feinde der Usability gesagt, dass Usability-Richtlinien möglicherweise für statische Websites gut seien, dass ich aber verrückt sei, vor dem exzessiven Gebrauch von Flash zu warnen; Flash sei doch "offensichtlich" für aufregendere, dynamische Websites gedacht.
  • Jetzt sagen die Feinde der Usability, dass ich vielleicht Recht gehabt habe bei den früheren Problemen mit Flash, dass es aber unvernünftig sei, traditionelle Usability-Richtlinien auf das "Web 2.0" anzuwenden, das, wie seine Propagandisten behaupten, alles revolutioniere und alles hinwegfegen werde, was wir kennen. (Nein, wird es nicht.)

Die Leute, die heute sagen, die Usability-Ergebnisse von vor fünf oder zehn Jahren lägen auf der Hand, sind genau die gleichen Leute, die diese Ergebnisse damals vehement bestritten haben.

Ich sage mit Sicherheit voraus, dass 2012 diese gleichen Gegner der Usability in ihren Blogs schreiben werden: "Sicher, Jakob Nielsen könnte 2007 Recht gehabt haben, aber von dem fantastischen Zeug, das wir heute, im Jahre 2012, machen, hat er keine Ahnung." Und wer sich im Jahre 2017 mit Nutzerforschung beschäftigt, wird nicht schlecht lachen, wenn sich dann alle am Ende einig sind, dass die Forschungsergebnisse von 2012 genau auf dem Punkt waren. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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