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09.10.2005

WYSIWYG hat ausgedient

Das Interaktions-Design im Macintosh-Stil stösst seit längerem an seine Grenzen. Ein neues Paradigma, die sogenannte ergebnisorientierte Nutzeroberfläche, könnte in Zukunft der Weg sein, den Nutzern mehr Macht zu geben.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 10.10.2005

 

In den vergangenen 25 Jahren hat ein Typ Nutzeroberfläche klar dominiert: die graphische Nutzeroberfläche à la Macintosh. Mittlerweile ist diese jedoch an ihre Grenzen gekommen und wird durch einen Stil ersetzt, der einige ihrer heiligsten Interaktionsprinzipien ins Gegenteil verdreht.

Verglichen mit früheren Interaktions-Paradigmen sind die Funktionen der Nutzeroberfläche im Mac-Stil viel nutzerfreundlicher: Statt Befehle und Parameter einzutippen, wählen die Nutzer die Befehle aus Menüs aus, was einem vor Tippfehler bewahrt. Menüs, Werkzeugleisten und Dialogfelder dienen als visuelle Objekte auf dem Bildschirm, die getreu die Ziele der Nutzer wiedergeben. Das kennen wir als WYSIWYG ("What you see is what you get", "Was du siehst, ist das, was du kriegst"). Ich nenne diesen Stil Mac-Stil, obwohl er ursprünglich von Xerox PARC stammt und zuerst im Xerox Star und im Apple Lisa zum kommerziellen Einsatz gelangte.

WYSIWYG war ein grosser Fortschritt gegenüber früheren Interaktionsarten, bei denen die Nutzer ihre Ziele auf viel abstrakterer Ebene formulieren mussten und die Ergebnisse erst viel später zu sehen bekamen. Um in der WYSIWYG-Oberfläche zum Beispiel einen Text fett zu setzen, markiert man den Text mit der Maus und wählt den Befehl "fett" aus dem Formatierungsmenü aus. Das ist einfach. Und, wichtiger noch: Sobald man den Formatierungsbefehl ausgewählt hat, ändert sich das Erscheinungsbild des Dokuments auf dem Bildschirm entsprechend. Zu jedem Zeitpunkt entspricht die Abbildung auf dem Bildschirm dem, was man gemacht hat und was man erhält, wenn man es ausdruckt.

In früheren Systemen wie WordStar musste man vor und hinter dem Text Befehle eintippen, wie z.B. <bold-on> oder <bold-off>, um sein Erscheinungsbild zu verändern. Erst beim Ausdrucken konnte man sehen, ob die Änderungen korrekt waren und den eigenen Wünschen entsprachen. Wer schon einmal HTML von Hand kodiert hat, weiss, wie hochgradig fehleranfällig und langwierig dieser Ansatz ist.

WYSIWYG war wirklich ein grosser Usability-Fortschritt, genau wie die graphische Nutzeroberfläche im Stile des Macintosh im allgemeinen. Daher hat sie sich so lange gehalten.

Die Grenzen von WYSIWYG

Leider haben wir inzwischen die Grenzen der gängigen graphischen Nutzeroberflächen erreicht. Man kann nur eine begrenzte Anzahl von Befehlen in Menüs, Werkzeugleisten und Dialogfeldern anzeigen. Microsoft Word 2003 hat jedoch 1500 Befehle - und die Nutzer haben normalerweise keine Ahnung, wo die meisten davon zu finden sind.

Eine weiterer Nachteil von WYSIWYG besteht darin, dass den Nutzern zu viel manuelle Arbeit aufgebürdet und zudem ihre Vorstellungsgabe überstrapaziert wird, wenn sie sich im Voraus ein Bild vom Ergebnis machen sollen. Sicherlich kann man sein Werkstück schrittweise in die gewünschte Form bringen, hübsch eine Modifikation nach der anderen, und jeden Fortschritt visuell kontrollieren. Aber jede Modifikation muss man selbst vornehmen und dafür viele Mausklicks aufwenden.

Schlimmer noch: man beginnt mit einem leeren Bildschirm und muss sein Ziel Schritt für Schritt aus dem Nichts aufbauen. Michelangelo mag zwar, verborgen im unbehauenen Marmorblock, schon zu Beginn bereits die fertige Statue vor sich gesehen haben. Aber für durchschnittliche Menschen ist so etwas erheblich strapaziöser.

Die direkte Manipulation von WYSIWYG-Objekten hat also drei entscheidende Grenzen:

  • eine Unmenge von Befehlen, von denen man jeden einzelnen erst lokalisieren muss (die meisten tun das nie und verwenden folglich die meisten der erworbenen Funktionen nie);
  • eine Menge Ausschuss, den man auf dem steinigen Weg vom Marmorblock des leeren Bildschirms bis zum gewünschten Ziel erst einmal weghauen muss (was zu einem grossen Produktivitätsverlust führt);
  • keine Führung zum Ziel hin; man muss selbst entscheiden, wie man vom Startzustand aus durch eine Kombination zahlreicher primitiver Befehle sein Ziel erreichen will. (Das widerspricht der eigentlichen Fähigkeit der meisten Nutzer, die besser ein existierendes Design modifizieren als eines ganz neu erfinden können.)

So oft ich Microsoft wegen der Tausenden von verschütteten Funktionen kritisiert hatte - zurzeit hat das Unternehmen ein gutes Usability-Team und ist sich der Probleme sehr bewusst. Im Grunde hat man versucht, eine überkomplizierte Grundlage mit Usability nachzurüsten und ist dabei gescheitert. Jetzt endlich hat Microsoft begriffen, dass man was unternehmen muss: Das Unternehmen verläßt die Pfade der alten Nutzeroberfläche und beschreitet neue Wege.

(Während wir zu einem neuen Paradigma übergehen, müssen wir am entscheidenden Vorteil von WYSIWYG festhalten: dass die primäre visuelle Darstellung der Objekte ein wirklichkeitsnahes Abbild des Zielbereichs ist; dass die Nutzer also ein alltagstaugliches Evaluations-Instrument zur Hand haben, um abzuschätzen, ob sie tatsächlich das gewünschte Resultat bekommen.)

Nächste Generation: Ergebnisorientierte Nutzeroberflächen

Die nächste Version von Microsoft Office (mit dem Decknamen "Office 12") wird auf einem neuen Interaktionsparadigma basieren: der sogenannten ergebnisorientierten Nutzeroberfläche. Wie die Demos zeigen, liegt die deutlichste Neuerung darin, dass Menüs und Werkzeugleisten fast völlig verschwinden. Der Fokus liegt jetzt auf der Spezifizierung der gewünschten Ergebnisse, und nicht mehr auf primitiven Operationen, die man für sein Ziel braucht.

Die neue Oberfläche zeigt Galerien von möglichen Endergebnissen an, und jede davon kombiniert jeweils eine Menge von Formatierungsoptionen. In so einer Galerie wählt man das komplette Erscheinungsbild eines gewünschten Objekts aus - etwa eines Organisationsdiagramms oder eines ganzen Dokuments - und beobachtet, wie es sich verändert, wenn man mit der Maus über die Alternativen in der Galerie fährt. Das Interaktionsparadigma hat sich umgekehrt und lautet nun: Was du kriegst, ist das, was du siehst (What You Get Is What You See) - oder WYGIWYS.

Das ist so, als könnten Sie auf einen Marmorblock zeigen und sagen: "Ich wünsche mir, dass ein David herauskommt - oder vielleicht eine Venus von Milo" - während Sie ein Buch mit berühmten Statuen durchblättern. Jedes Mal, wenn Sie ein Design erwähnen, verändert sich die Gestalt Ihres Marmorblocks entsprechend, aber mit Ihrem Inhalt (sagen wir: Ihrem Gesicht oder Ihrer Grösse) anstelle des ursprünglichen Elements.

Es wird wohl ein Star-Trek-artiges Holodeck nötig sein, um eine ergebnisorientierte Nutzeroberfläche für zeitgenössische Bildhauerei herzustellen. Doch es sollte möglich sein, heute schon so etwas für ein 3D-Zeichenprogramm oder andere gestalterische Software zu bauen. Im Moment können wir ausprobieren, wie die ergebnisorientierte Nutzeroberfläche bei Büro-Software wie Microsoft Office funktioniert. Ich halte mich zwar mit einem endgültigen Urteil zurück, bis ich eine geraume Zeit lang mit der Software gearbeitet habe, aber das neue Design verspricht doch viele Probleme der derzeitigen Nutzeroberflächen zu lösen.

Wenn irgendein anderer ein neues Nutzeroberflächen-Paradigma eingeführt hätte, würde das wahrscheinlich jahrelang eine Kuriosität bleiben; Microsoft Office aber hat einen besonderen Status als das weltweit meistbenutzte Interaktionsdesign. Aus Nutzertests wissen wir, dass Nutzer oft fordern, eine Nutzeroberfläche solle so wie Office funktionieren. Wenn man es gewohnt ist, mit einem bestimmten Stil fast den ganzen Tag zu arbeiten, dann will man den bei anderen Anwendungen und Bildschirmansichten genauso haben.

Wenn das neue Interaktionsdesign so funktioniert, wie es die frühen Voraussagen erahnen lassen, dann werden die Nutzer rasch erwarten, dass auch andere Softwareumgebungen diese ergebnisorientierte Oberfläche zur Verfügung stellen. Die Leute mühen sich im Web ungern mit Befehlen und Nutzereinstellungen ab, weshalb auch die meisten der bestehenden Individualisierungsoptionen scheitern. Es wird deshalb interessant sein, die Umsetzung dieser Ideen in Bereiche jenseits der Büroanwendungen zu beobachten.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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