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08.11.2014

Zeit mit Nutzern: Setzen Sie persönliche und Unternehmensziele

Um User Experience Insights und Fähigkeiten zu entwickeln, sollten Sie festlegen, wie viele Stunden pro Jahr Sie das tatsächliche Verhalten der Nutzer beobachten sollten. Nachwuchskräfte benötigen mehr Stunden, erfahrenen Mitarbeitern reichen weniger Stunden pro Jahr aus.

© BlueSkyImages - Fotolia.com

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 09.11.2014

 

Wie wird man gut im Bereich User Experience? Wie bauen Sie eine erfolgreiche UX-Karriere (engl.) auf? Indem Sie aktiv am Nutzererlebnis arbeiten. Erfahrung ist die beste Methode, um UX-Expertenwissen zu gewinnen. Generell gibt es nur sehr wenige Theorien, die für UX-Anwender wirklich wichtig sind. Es handelt sich bei diesem Theorien zwar um einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft, da sie Menschen notwendige UX-Hintergrundinformationen näherbringen (engl.), die das Fundament darstellen, auf dem weitere Erkenntnisse basieren. Doch diese grundlegenden 10% der UX-Fähigkeiten sind das einzige, was Sie in einem Klassenzimmer lernen können. 90% des UX-Wissens, das auf diesem Fundament basiert, eignen Sie sich während der Arbeit an.

Allerdings entsteht nicht jede Erfahrung gleich. Falls Sie in einem Vakuum, ohne Feedback von Nutzern, designen, werden Sie nicht viel lernen (zudem werden Ihre Produkte schrecklich sein, aber das ist nicht das Thema meines heutigen Artikels.)

Es ähnelt ein bisschen dem Erlernen des Geigenspiels: fiedeln Sie so lange Sie möchten - ohne Feedback von Menschen, die wissen, wie die Musik klingen sollte, werden Sie nicht besser werden. Was das Nutzerlebnis betrifft, wissen Sie erst, nachdem Sie herausgefunden haben, ob ein Design die Zielgruppe tatsächlich anspricht, wie Sie es nächstes Mal besser machen können. Es ist kein gültiges Kriterium, ob Sie persönlich glauben, dass das Design gut ist. Nutzeroberflächen und das menschliche Verhalten sind so komplex, dass sich ihre Interaktionen nicht durch Vermutungen, die auf persönlichen Meinungen basieren, begründen lassen. Sie benötigen Daten, um zu erfahren, was funktioniert, was nicht funktioniert und was Nutzer tatsächlich benötigen. Sie können nicht raten. Versuchen Sie es erst gar nicht. Sie können nicht in einem schalldichten Raum lernen, wie man gute UX produziert.

Das Auseinandersetzen mit den Nutzern als Lehrmittel

Es ist ganz einfach, Dinge zu lernen: beobachten Sie, was Nutzer tun (engl.). Vorzugsweise tun Sie das auf so vielen verschiedenen Nutzeroberflächen wie möglich: nicht nur mit Ihrem eigenen Design, aber auch mit den Designs der Konkurrenz (engl.).

Lee Duddell (UX-Chef bei WhatUsersDo (engl.) - einem nützlichen, multinationalen Remote-Nutzertestservice) sagte vor einiger Zeit voraus (engl.), dass sich die meisten UX-Organisationen im Jahr 2014 Ziele für das Auseinandersetzen mit Nutzern setzen werden. Leider glaube ich nicht, dass das passierte, obwohl er seine Vorhersage eingrenzte, indem er sie auf "reife UX-Organisationen" beschränkte, von denen es nur sehr wenige auf der Welt gibt. Der Ansatz ist aber gut: was gemessen wird, wird auch erledigt. Anstatt einfach zu sagen "Ich möchte mehr über das Nutzererlebnis erfahren" oder "unser Unternehmen sollte ein besseres UX bieten", sollte sich eine Person oder ein Unternehmen ein spezifisches Ziel setzen und festlegen, wie viele Stunden der Nutzerbeobachtung für das nächste Jahr geplant sind.

Am Ende des Jahres können Sie alle tatsächlichen Massnahmen zusammenfassen und sie mit den gesetzten Zielen vergleichen.

Was kann als Auseinandersetzen mit Nutzern bewertet werden?

Zeit, die Sie damit verbringen, eine andere Person zu beobachten, die eine Aufgabe auf einer Nutzeroberfläche löst. Diese Interaktion kann live oder zeitverzögert - per Videoaufzeichnung - beobachtet werden. Die Beobachtung kann in einem Usability-Labor, an einem speziellen Standort im Rahmen einer Feldstudie oder in Form einer Remote-Usability-Studie stattfinden. Diese Details sind nicht relevant, solange Sie echtes Nutzerverhalten auf einer Live-Webseite oder einem tatsächlichen Design (inklusive einem Design-Prototyp (engl.)) beobachten.

Es ist einfacher, aufzuzählen, welche Dinge nicht zählen:

  • Mit Nutzern zu sprechen oder sie zu interviewen (das ist zwar nett, Sie haben allerdings keinen Kontakt zur tatsächlichen Nutzung)
  • Fokusgruppen (engl.) (dasselbe)
  • Umfragen (engl.) (dasselbe)
  • Produkte selbst zu verwenden (dabei handelt es sich zwar um echte Nutzung, Sie sind aber kein durchschnittlicher Nutzer)
  • Den Bericht einer Usability-Studie zu lesen (eine sehr gute Lernressource, eine Zusammenfassung ist aber nicht dasselbe, wie Ihre eigenen direkten Beobachtungen des Live-Nutzerverhaltens)
  • Zusammengefasste Erkenntnisse von quantitativen Nutzerstudien, wie Card-Sorting, Baumtests und so weiter (zählt nur als tatsächliche Auseinandersetzung mit den Nutzern, falls Sie jeden einzelnen Nutzer beobachtet haben, während dieser den Test absolvierte)

Was passiert also, wenn Sie zwei Nutzer gleichzeitig testen? (Was manchmal Paartest, Dyadentest oder konstruktive Interaktion genannt wird). Zählen zwei Nutzer, die einen Computer verwenden, doppelt? Meiner Meinung nach nicht, da Sie nur einen Interaktionsstrom beobachten, obwohl ihn zwei Menschen gemeinsam generieren. (Es ist weitere Forschung nötig, um einen möglichen Multiplikator für Paartests zu ermitteln: vielleicht sollten zwei Nutzer, die eine Stunde lang arbeiten, als 1,2 Stunden Exposition gelten, da Sie reichhaltigere Kommentare erhalten. Da derartige Forschung noch nicht zur Verfügung steht, würde ich bei einer Stunde Exposition pro Stunde eines Paartests bleiben.)

Sich während eines Multiple-User Simultaneous Tests (MUST Studie) im Raum zu befinden, bedeutet ausserdem nicht, das Sie alle Teilnehmer der Studie beobachtet haben. Da Sie sich während der Studie von einer Teststation zur nächsten bewegen, beobachten Sie zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur einen Teilnehmer - auch wenn Sie zwischen 12 Teststationen wechseln. In einer Stunde haben Sie daher eine Stunde Nutzerverhalten beobachtet, obwohl es 5 Minuten für jede der 12 Personen umfasst. Während dieser Sitzung mit 12 Nutzern, haben Sie daher eine Expositionsstunde - und nicht 12 Stunden - gewonnen.

Ziele für das Auseinandersetzen mit Nutzern

Hier sind meine empfohlenen jährlichen Ziele, was die persönliche Auseinandersetzung mit Nutzern verschiedener Kategorien von Mitarbeitern betrifft. Für ein Unternehmen oder eine Gruppe würden Sie die absolvierten Stunden der einzelnen Mitarbeiter addieren, um das gesamte Ziel zu erreichen.

PositionAuseinandersetzung mit Nutzern pro Jahr
UX-Forscher, Usability-Spezialist200-400 Stunden
Interaktionsdesigner, Informationsarchitekt100-200 Stunden
Grafikdesigner50-100 Stunden
UX-Manager40-200 Stunden
Content-Produzent, digitaler Copywriter50-100 Stunden
Internet Marketing Manager, SEO-Spezialist40-80 Stunden
Frontend-Entwickler20-40 Stunden
Backend-Entwickler5-10 Stunden
Engineering-Manager5-10 Stunden
Geschäftsleiter5-20 Stunden

 

Was die letzte Zeile der Tabelle betrifft: die Geschäftsleitung wird natürlich nur in Unternehmen, die stark auf dem Nutzererlebnis oder der Online-Präsenz des Nutzers basieren, Nutzer beobachten. Der Chef einer Kohlemine sollte keine Zeit im Usability-Labor verbringen. Doch der CEO eines Unternehmens für Computerspiele sollte mehr Zeit mit der Beobachtung von Gamern verbringen, als der hohe Zielwert meiner Tabelle, da ein Spiel ausschliesslich auf dem Nutzererlebnis basiert.

Für jede Positionskategorie habe ich eine Zeitspanne für die gewünschte Exposition angegeben. Nachwuchskräfte oder Personen, die neu im Unternehmen sind, sollten sich am oberen Ende der Spanne orientieren. Im Gegensatz dazu, reicht für erfahrene Mitarbeiter das untere Ende der Zeitspanne aus. (Die Zeitspanne für UX-Manager ist besonders weit. Grund dafür ist, dass Personen mit verschiedensten Hintergründen in diese Position befördert werden. Je weniger Exposition ein neu eingestellter UX-Manager in seinem vorhergehenden Job hatte, desto mehr ist im neuen Job notwendig.)

Der Grund, weshalb erfahrene Mitarbeiter weniger Stunden pro Jahr benötigten, ist, dass sich die sich die Erfahrung im Laufe der Lebenszeit ansammelt. Sie erinnern sich vielleicht nicht an die genauen Details, was ein bestimmter Nutzer in einer Studie vor 10 Jahren tat, Sie erinnern sich aber an die Muster. Und die Muster des Nutzerverhaltens sind für die Analyse neuer Nutzeroberflächen wichtig.

Hier ist eine andere Betrachtungsweise: Je mehr Sie bereits wissen, desto weniger werden Sie durch weitere Informationen dazulernen. (Das ist ein Beispiel für die Macht der Erfahrung, welche für alle Lernprozesse gilt. Mehr darüber erfahren Sie in unserem Kurs The Human Mind and Usability (engl.)) Falls Sie ein Anfänger mit nur 100 absolvierten Stunden aktiver Auseinandersetzung mit Nutzern sind, verdoppeln 100 Stunden Ihre Gesamtbeanspruchung. Falls Sie aber im Laufe Ihrer Karriere bereits 1.000 Stunden mit Nutzern absolviert haben, erhöhen 100 Stunden den Gesamtwert um nur 10%. Ihre gesammelten Einblicke werden sich noch weniger erhöhen (vielleicht um 5%), da sich das Verhalten der neue Nutzer und Verhaltensmuster, die Sie früher beobachtet haben, stark überschneiden werden.

Wir haben empirische Beweise, die belegen, dass sich Experten für Nutzererlebnisse weniger stark weiterentwickeln, wenn ihre bereits gesammelte Gesamterfahrung steigt. Gehaltsumfragen zeigen, dass der durchschnittliche Anstieg des realen Gehalts von UX-Profis wie folgt verläuft:

  • In den ersten 5 Jahren der UX-Karriere (Jahre 1-5): 8% pro Jahr
  • In den nächsten 5 Jahre (Jahre 6-10): 4% pro Jahr
  • Mit 10 Jahren UX-Erfahrung: 2% pro Jahr

Ein Unternehmen wäre schnell bankrott, wenn es den Mitarbeitern mehr bezahlen würde, als diese produzieren. Wir können daher die Schlussfolgerung ziehen, dass die jährliche Verbesserung der professionellen Fähigkeiten von UX-Profis etwas höher sein muss, als die angegebenen Gehaltsraten. Entsprechend ist das Ausmass, in dem Personen ihre Fähigkeiten im Bereich der Nutzererfahrung verbessern, am Anfang sehr hoch und flacht später ab. Nach 10 Jahren verbessern Menschen ihre UX-Fähigkeiten zwar noch - allerdings nur um rund 2% pro Jahr. Das ist eine empirische Tatsache, wobei ich mir diese Daten dadurch erkläre, dass zusätzliche Erfahrung das UX-Gesamtwissen der Person immer weniger stark erweitern kann.

Falls Sie daher gerade eine Karriere im Bereich der User Experience starten, sollen Sie sich aggressive Ziele setzen, was Ihre jährliche Arbeit mit den Nutzern betrifft: Sie werden im Verhältnis zu den wenigen Dingen, die Sie bereits wissen, sehr viel lernen. (Und Ihr Einkommen sollte im selben Verhältnis steigen.). Falls Sie allerdings bereits sehr viel Erfahrung haben, erweitert die jährliche Exposition Ihr bestehendes UX-Wissen nur geringfügig. Sie benötigen zwar ein gewisses Mass an Auseinandersetzung mit dem Nutzer, um auf dem aktuellsten Stand zu bleiben, allerdings wesentlich weniger als Nachwuchskräfte.

 

© Deutsche Version. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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