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14.09.2003

Es ist an der Zeit, Technik zum Laufen zu bringen

Die IT-Industrie reift. Es bleibt zu hoffen, dass diese Reife zu einer langsameren Einführung neuer Features führt. Dies wiederum würde es den Firmen ermöglichen, ihre Aufmerksamkeit und Ressourcen darauf zu fokussieren, die bereits vorhandene Technologie für die Nutzer zu optimieren.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 15.09.2003

 

Die Informationstechnologie reift - eine Tatsache, die in Silicon Valley viel Kopfzerbrechen auslöst. Da sich die Gewinnspannen sowohl für Hardware als auch für Software verkleinern, sind die Firmen eher bereit, ihre Software-Entwicklung in Billigproduktionsländer zu verlagern. Wegen der schlechten Usability-Praxis in den Offshore-Ländern führt dies aber zu einigen Bedenken.

Solche Entscheidungen können die Finanzlage einer IT-Firma verbessern, aber sie werden kaum die Unruhe unter den IT-Kunden verringern. Die CIOs dieser Welt sind es leid, für Unternehmenssoftware zu bezahlen, welche so kompliziert implementiert und aufrechterhalten werden muss, dass die Gesamtkosten die potenziellen Einsparungen weit übersteigen. Und die CEOs dieser Welt sind es leid, dauernd neue Technologie-Käufe zu finanzieren - anstatt dass sich die IT-Abteilungen auf die Verbesserung der Arbeiterproduktivität fokussieren und existierende Features zum Laufen bringen.

Die IT zum Laufen bringen

Dieses Jahr berichtete das Harvard Business Review voller Stolz: "IT spielt keine Rolle" für die Wettbewerbsfähigkeit einer Firma. Es ist zweifellos zutreffend, dass Investitionen in Computertechnologie in der Vergangenheit negativ mit der Rentabilität korrelierten, und dass wir während vieler Jahre sowohl in den USA als auch in anderen Ländern ein verringertes Produktivitätswachstum hatten. Der Hauptgrund war in beiden Fällen eine übermässig schnelle Einführung neuer Technologie, welche für Menschen ungeeignet war.

In letzter Zeit haben sich Investitionen in neue Technologien verlangsamt und die Produktivität begann zu schwanken, weil Firmen sich darauf konzentrierten, vorhandene Technologie zum Laufen zu bringen, anstatt den letzten Trends nachzujagen.

Meine kurze Wunschliste, um die Technologie zum Laufen zu bringen:

  • Keine Bugs. Fehlfunktionen veranlassen den Nutzer, sein Verständnis des Systems zu hinterfragen und formen so fehlerhafte mentale Modelle.
  • Sicherheit als Standard. Nutzer sollten nicht Sicherheits-Features installieren und sich mit Signaturen herumschlagen müssen. Dieser Ansatz führt garantiert dazu, dass die meisten Systeme ungeschützt bleiben. Auch E-Mails sollten nicht in einem unverschlüsselten Zustand sein, ausser, wenn sie gelesen oder geschrieben werden.
  • Integration. Plug-and-Play muss zur Wirklichkeit werden, nicht nur für Hardware sondern auch für Software und Dienstleistungen.
  • Zuverlässiges Wireless. (Dieser Punkt betrifft hauptsächlich die USA, da die meisten anderen Staaten drahtlose Dienste haben, die auch funktionieren). Ein zuverlässiges, immer gegenwärtiges Signal ist wichtiger als ausgefallene 3G-Features. Benötigt wird ebenfalls eine Integration zwischen den grossräumigen Mobilfunknetzen, den lokalen WiFi-Netzen und anderen Diensten, die Anwender von einem zum anderen System wechseln lassen. Diese "Hand-Offs" sollten immer die billigste und beste Verbindung wählen und kein Einloggen oder keine Nutzerkonten bei jedem Betreiber verlangen.
  • Multigeräte-Nutzererfahrung. Anwender haben mehrere Geräte und bewegen sich zwischen mehreren Standorten; das Netzwerk ist in diesem Fall der Anwendererfahrung gleichzusetzen. Die Synchronisation aller Geräte sollte deshalb automatisch, das heisst ohne zusätzliche Aktion des Nutzer erfolgen können.

Jedes dieser Kriterien erfordert Heerscharen von Programmierern für die Implementierung. Schön. Das Resultat wird aber für die Kunden weit nützlicher sein, als wenn die gleichen Ressourcen für die Implementierung neuer Features verwendet werden, welche die Anwender normalerweise gar nicht benötigen.

Innovation ist hier gefordert

Genau so wie Francis Fukuyama falsch lag, "das Ende der Geschichte" vorauszusagen, wäre es falsch, das Ende der IT-Innovation vorherzusagen. Wir brauchen immer noch neue Features; aber hoffentlich tauchen sie langsamer auf als in der Vergangenheit und werden zudem solider entworfen und implementiert, bevor sie veröffentlicht werden.

Am wichtigsten ist, dass die Entwickler realisieren müssen, dass dem gegenwärtigen PC-Paradigma das Ende naht.

  • Wir benötigen eine neue Art Betriebssystem, das Nutzern hilft, ihre Zeit zu managen und sie vor Informationsüberlastung schützt.
  • Dateisysteme und die lokale Suche müssen sich wandeln, um der massiven Zahl von Informationen gerecht zu werden, welche ein Anwender während seiner Lebenszeit beim Computergebrauch ansammelt (Der Ordner "my documents" auf meinem PC enthält zum Beispiel 66.794 Dateien in 2.039 Ordnern). Ebenfalls müssen zwei Informationsräume vereinheitlicht werden, die zur Zeit separiert sind: Dokumente und E-Mail.
  • E-Mail muss umgestaltet werden, vom Ansatz "the mail shall get through" zu einem Ansatz, der sich auf ehrliche Kommunikation und Zusammenarbeit konzentriert (wahrscheinlich so, dass die meisten Features der Zusammenarbeit anderen Interfaces überlassen werden).
  • Wir benötigen ein Internet Control Panel, um Mitteilungen zu sammeln und um Dienste und Ereignisse darzustellen, die den Nutzer interessieren. Gegenwärtige Anwendungen wie so genannte "RSS aggregators" und eBay-Auktionsmonitore sind frühe Versuche, aber wir benötigen vermutlich ein einzelnes integriertes Steuerungsfeld.
  • Applikationen für Inhaltserstellung müssen die Büroautomation beenden und aufhören, Druckdaten wie den Heiligen Gral zu behandeln. Stattdessen müssen sie Intranet-Kommunikationsmanager werden.

Microsofts bevorstehendes "Attentional User Interface" sollte bereits viele dieser Änderungen unterstützen. Leider ist es aber nicht wahrscheinlich, dass der Wechsel von GUI zu AUI in nächster Zeit geschehen wird, besonders weil Microsoft dafür bekannt ist, zur Version 3 zu kommen, bevor ein neues Produkt funktioniert.

Web Browsers: Der Weg in die Zukunft

Web Browsing braucht dringend Verbesserungen. Ich habe lange vorausgesagt, dass der Internet Explorer 8.0 der erste gute Web Browser sein würde, und es ist zweifellos möglich, dass Microsofts versprochenes Such-Tool die lang erwartete Integration zwischen Websuche und kundenseitiger Navigation ermöglicht. Zum Beispiel brauchen die Nutzer eine Möglichkeit, den Bereich einer Suche so einzuschränken, dass nur "Seiten, die ich schon gesehen habe" oder "Websites, die ich schon besucht habe" berücksichtigt werden.

Ebenso braucht es Navigations-Links, welche die Relevanz der gewünschten Seite für die gegenwärtige Frage des Nutzers zeigt. (Eine neue Studie des Palo Alto Forschungszentrums fand heraus, dass das Zufügen letzterer Eigenschaft beinahe zu einer Verdopplung der Nutzerleistung führt: das Lokalisieren der Produkte auf der Xerox Website dauerte 3,5 Minuten mit einfachem Browsen, 3,0 Minuten mit herkömmlichen Suchen und 1,6 Minuten, wenn die Links mit Such-Relevanz als Verbindungen in einem experimentellen "Spurensuche"-Interface hervorgehoben wurden)

Eigenschaften wie Sitemaps, Breadcrumbs und andere strukturelle Elemente müssen zu Browser-Befehlen werden. Die Navigation aus einer Webseite heraus zu filtern schützt den Anwender vor den Launen der Web-Designer und stellt so konsistente und standardisierte Navigationsfeatures sicher.

Die Web-Geschichte hat gezeigt, dass Leute allgemeine Befehle wie den Back-Button weit mehr verwenden als gelegentliche Features, welche, wenn sie vorhanden sind - und die Nutzer sie auch tatsächlich finden können - dazu tendieren, auf unterschiedlichen Seiten anders zu funktionieren.

Klar, wir benötigen beides: einige neue Features und einen Paradigmenwechsel bei Betriebssystemen. Im Grossen und Ganzen wäre es für Nutzer allerdings besser, wenn die IT-Industrie in einen kollektiven Tiefschlaf sinken und sich verlangsamt darauf konzentrieren würde, bestehende Features zum Laufen zu bringen.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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