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20.09.2009

Frisch oder altbekannt: Wie aggressiv ein Redesign sein sollte

Die Nutzer hassen Veränderungen, deshalb ist es in der Regel besser, das altbekannte Design beizubehalten und es schrittweise weiterzuentwickeln. Auf lange Sicht allerdings kann die schrittweise Entwicklung die einheitliche Struktur zerstören, wodurch eine neue Architektur der Nutzeroberfläche nötig wird.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 21.09.2009

 

Oft hört man Mitglieder von Design-Teams (oder des Managements) sagen: "Wir brauchen ein frisches Design." Dadurch geraten Redesign-Projekte in der Regel auf eine falsche Schiene mit falschen Zielen und falscher Strategie.

Ein frisches Design ist meist ein schlechteres Design, schon einfach nur deshalb, weil es neu ist und deshalb die Erwartungen der Nutzer nicht trifft. Eine bessere Strategie ist es, auf Gewohnheit zu setzen und auf dem existierenden Wissen der Nutzer über die Funktionsweisen eines Systems aufzubauen.

Warum Insider ein frisches Design haben wollen

Sie haben das Design jeden Tag vor Augen, jahrelang. Natürlich denken Sie, die Nutzeroberfläche sehe abgenutzt aus. Zählen Sie einmal die Stunden, in denen Ihr eigenes Design Ihren Blicken ausgesetzt war. Wenn Sie jahrelang im gleichen Design-Team gearbeitet haben, kann die Anzahl dieser Stunden leicht in die Tausende gehen.

Ihr normaler Nutzer dagegen hat in den vergangenen Jahren wahrscheinlich nur wenige Stunden damit verbracht, Ihr Design anzuschauen. Denken Sie an Jakobs Gesetz vom Internet-Nutzererlebnis: Die Nutzer verbringen die meiste Zeit auf anderen Websites.

Normalerweise verbringen die Leute nicht mehr als 2-3 Minuten auf einer Website; selbst wenn sie Ihre Website täglich besuchen, kommen so in zwei Jahren nur 30 Betrachtungsstunden zusammen. In der Regel verbringen selbst loyale Kunden nicht mehr als 5 Stunden pro Jahr auf Ihrer Website. Deshalb werden Ihre Kunden Ihres Designs lange nicht so schnell überdrüssig.

Warum die Nutzer ein altbekanntes Design haben wollen

Der wichtigste Grund ist: Den Nutzern ist das Design an sich völlig unwichtig; sie wollen dort einfach nur irgendwas erledigen und dann wieder raus. Normale Leute sitzen nicht gerne an ihrem Rechner. Sie würden lieber Fussball gucken, mit dem Hund rausgehen oder sonst irgendwas tun. Den Computer zu benutzen rangiert gerade einmal knapp über dem Müllwegbringen.

Wenn die Leute Websites besuchen oder Programme nutzen, verschwenden sie keine Zeit damit, das Design zu analysieren oder zu bewundern. Sie konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf die Aufgabe, die sie erledigen wollen, den Inhalt, ihre eigenen Daten oder Dokumente.

Deshalb mögen die Leute ein Design, in dem sie die Funktionen kennen und sofort diejenigen lokalisieren können, die sie gerade brauchen. Das heisst, sie mögen ein altbekanntes Design.

In der Tat sollten Sie sich jedes Mal, wenn Sie ein Redesign frei schalten, auf eine Flut von E-Mails verärgerter Kunden gefasst machen. Es ist ein Naturgesetz, dass die Nutzer Veränderungen hassen, und dass sie sich jedes Mal beschweren, wenn Sie irgendetwas an eine andere Stelle verschieben oder sonstwie ihre Fähigkeit reduzieren, das zu tun, was sie immer getan haben.

(Dass sich Nutzer über ein Redesign beschweren, bedeutet nicht unbedingt, dass es schlecht ist; wenn das neue Design wirklich eine bessere Usability hat, entschliessen sich die Leute eventuell am Ende doch dazu, es zu mögen. Kundenbeschwerden sind also kein Grund, Redesigns überhaupt zu vermeiden; sie sind lediglich ein Grund, das Design nicht bloss deshalb zu verändern, damit es "frisch bleibt".)

Häufig genutzte Nutzeroberflächen

Wenn Sie ein Intranet betreiben, Programme entwickeln oder eine extrem populäre Website haben, kann es sein, dass die Nutzer zusammengerechnet doch mehr als ein paar Minuten pro Woche auf Ihre Nutzeroberfläche schauen. In solchen Fällen könnte man denken, dass die Kunden nach einiger Zeit nach einem frischen Design verlangen - doch nichts dergleichen passiert.

Leute, die regelmässig eine Nutzeroberfläche verwenden, werden zu erfahrenen Nutzern, und ihr Nutzererlebnis wird von perfekter Leistung geprägt. Designs für Erstnutzer und für Expertennutzer unterscheiden sich in der relativen Bedeutung einiger Schlüsselattribute der Usability wie Lernbarkeit und Effizienz.

Je mehr sich die Leute auf ihre perfekte Leistung verlassen, desto abhängiger werden sie von automatisierten Routineabläufen. Deshalb präferieren häufige Nutzer ebenfalls ein altbekanntes Design.

Letztlich läuft der Unterschied zwischen Design-Teams und Nutzern auf den Unterschied zwischen Anschauen und Verwenden hinaus. Sie schauen Ihr Design immer wieder aufs Neue an und debattieren über seine kleinsten Elemente. Ihre Kunden verwenden vielleicht die gleichen Funktionen immer wieder, aber sie denken dabei an ihre Aufgabe. Da die Nutzer sich auf etwas konzentrieren, das ausserhalb des Designs liegt, registrieren sie dieses lange nicht so stark.

Wann man doch ein Design auffrischen sollte

Im Allgemeinen ist es besser, eine Nutzeroberfläche mit leichten Veränderungen weiterzuentwickeln, als ein vollkommen frisches Design anzubieten. Deshalb empfehle ich nachdrücklich, im ersten Schritt das Grund-Design richtig zu machen, bevor Sie es freischalten, damit es einige Jahre lang mit kleineren Updates weiterleben kann. Bevor Sie etwas Ihren Kunden präsentieren, verwenden Sie Techniken wie schnelles iteratives Design und Papierprototypen, um den Gestaltungsraum gründlich zu erforschen und die Usability aufzupolieren.

Dies ist ein bewusst anderer Ansatz als die Methode, einfach "etwas an die Wand zu werfen" und zu sehen, was kleben bleibt. In der Tat plädieren manche Leute dafür, das, was man gerade für das beste hält, frei zu schalten; denn das Schöne am Internet sei, dass man alles wieder ändern kann, was sich als falsch erweist. Das stimmt zwar, aber mit dieser Methode werden Sie unpopulär sein, weil Sie

  • die Nutzer missachten, indem Sie ihnen ein schwaches Design vorsetzen, das Sie in wenigen Tagen vor dem Freischalten mit Nutzertests hätten verbessern können; und weil Sie

  • den Nutzern entgegenwirken, indem Sie sie dazu zwingen, unter genau den Veränderungen zu leiden, von denen wir wissen, dass sie sie hassen.

Im Allgemeinen gilt: Machen Sie es richtig, und ändern Sie es dann langsam. Allerdings gibt es zwei Fälle, in denen ein radikalerer Ansatz angemessen ist:

  • Wenn Sie noch fast keine aktuellen Nutzer haben und erwarten, dass eine grössere Design-Verbesserung den Nutzerstamm dramatisch vergrössern wird. In diesem Fall ist der Geschäftsverlust durch das Bestrafen Ihrer gegenwärtigen Kunden klein genug, um ihn in Kauf nehmen zu können. Natürlich ist es immer noch ein Risiko, ob Sie wirklich in der Lage sein werden, ein viel grösseres Publikum anzusprechen. Denken Sie an das alte Sprichwort: ein Spatz in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dach. Wenn Sie sich nicht sicher sind, dass auf diesem Dach Millionen von Nutzern warten, sollten Sie vielleicht besser unten bleiben.

  • Wenn sich Ihr altes Design so viele Jahre lang schrittweise entwickelt hat, dass das Gesamt-Nutzererlebnis zu verschachtelt geworden ist und jeden Bezug zu einer einheitlichen konzeptuellen Struktur verloren hat.

Als Beispiel für diesen zweiten Punkt mag uns Microsoft Office dienen. Das Software-Paket wurde 1989 eingeführt als schrittweise Zusammenfassung einiger älterer, zuvor allein stehender Anwendungen wie Word (von 1983) und Excel (von 1984). Im Jahr 2000 war sie zu Grunde liegende Nutzeroberflächen-Architektur 17 Jahre alt, und MS Office quietschte an allen Ecken und Kanten. Ich habe mich häufig darüber beschwert, dass der alte Ansatz wie Kraut und Rüben aus unterschiedlichsten Funktionen zusammengewürfelt war - und dass das immer komplexere Sortiment von Menüs und Dialogboxen es den Nutzern immer schwerer machte, die meisten davon zu finden.

Ich kritisierte damals zwar die wachsenden Usability-Probleme von MS Office, sagte aber auch dazu, dass ich, wenn ich Bill Gates wäre, nicht unbedingt ein radikales Redesign durchführen würde. Mein Gedanke war: ein neues Design wäre zwar besser für die Nutzer, aber möglicherweise schlechter fürs Geschäft; es ist einfacher, schrittweise Upgrades zu verkaufen als eine vollkommen neue Nutzeroberfläche. Und so kam es, dass Office 2003 mit ein wenig Schuhwichse auf der gleichen 20 Jahre alten Nutzeroberfläche ausgeliefert wurde.

Im Grunde allerdings war das alte Design in der Tat zu alt geworden, und die gigantische Menge an inzwischen aufgelaufenen Funktionalitäten erforderte eine komplette Neuplanung des Nutzererlebnisses. Diese wurde schliesslich mit Office 2007 auch tatsächlich eingeführt. Nachdem ich nun die neue Nutzeroberfläche zwei Jahre lang verwendet habe, sehe ich keinen Weg zurück mehr zu Office 2003 oder seinen Vorgängern. Als es heraus kam, gab es allerdings viele Klagen: Nutzer mögen keine Veränderungen, und eine neue Nutzeroberfläche erfordert Zeit, sich an sie zu gewöhnen.

Wenn Ihr existierendes Design also kein Wildwuchs aus notdürftig zusammengeschraubten Funktionen ist, der eine neue Architektur benötigt, ist es am besten, bei dem gewohnten Design zu bleiben, das die Nutzer bevorzugen, und der Versuchung zu einem neuartigen Design zu widerstehen, das Sie selbst als einziger wertschätzen.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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