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08.03.2009

Kindle 2: Usability-Bericht

Das neue E-Book-Lesegerät von Amazon bietet eine Lesbarkeit auf dem Niveau gedruckter Bücher und glänzt beim Lesen von Belletristik, hat aber ein umständliches Interaktions-Design und unterstützt nicht-lineare Inhalte nur schlecht.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 09.03.2009

 

Die neue Version des Kindle, des von Amazon.com ausgewiesenen E-Book-Lesegerätes, wurde kürzlich mit verbessertem Display und verschiedenen anderen Neuerungen ausgeliefert. Es bietet jetzt gute Usability beim Lesen linearer Belletristik (hauptsächlich von Romanen), allerdings ist es bei anderen Aufgaben weniger nutzerfreundlich.

Um es auszuprobieren habe ich mir zwei Exemplare des gleichen Buches gekauft: ein Paperback aus dem Buchhandel und eine Download-Version für den Kindle. Kapitelweise abwechselnd habe ich die eine Hälfte des Buches in gedruckter Form gelesen, die andere auf dem Kindle-Bildschirm. Meine Lesegeschwindigkeit war genau die gleiche (mit weniger als 0,5% Unterschied), gemessen in Wörtern pro Minute.

Natürlich ergibt eine Person, die ein Buch liest, keine richtige quantitative Studie. Mithin kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob der Kindle bereits das Nirwana gleichwertiger Lesbarkeit von Bildschirm und Papier erreicht hat. Aber so hat es sich angefühlt.

Wenn ich mit dem Kindle durchs Haus gegangen bin, fühlte ich mich wie ein Star-Trek-Darsteller mit einem Datapad. Aber wenn ich mich hinsetzte, um den Roman zu lesen, wurde ich so stark von der Geschichte gefesselt, dass ich vergessen habe, dass ich sie auf einem elektronischen Gerät las. Diese Tatsache alleine ist bereits ein hohes Lob für die Designer des Geräts.

Umständliches Interaktionsdesign

Der Kindle glänzt auf einem Gebiet des Interaktionsdesigns: das Umblättern der Seiten ist extrem einfach und bequem. Für diesen einen Befehl gibt es zwei Knöpfe (auf jeder Seite des Geräts einen). Das Zurückblättern wird nicht so oft gebraucht, aber auch dies geht gut über einen eigenen, kleineren Knopf.

Das Gerät unterstützt einen also gut bei der Aufgabe, linear zu lesen - das ist zweckmässig, weil sich das Design des Kindle auf diesen einen Nutzungsfall konzentriert. Beim Lesen besteht die einzige Interaktion darin, immer wieder auf den Nächste-Seite-Knopf zu drücken.

Alles andere ist umständlich.

Die meisten Interaktionen des Kindle werden über einen kleinen Joystick namens 5-way vermittelt, mit dem man den Cursor in vier Richtungen bewegen kann; wenn man drückt, löst das die fünfte Aktion aus. Wenn man immer wieder den 5-way schnippen muss, um den Cursor über den Bildschirm zu bewegen, ist das extrem ermüdend. Es fühlt sich überhaupt nicht wie eine direkte Manipulation an. Der 5-way gehört dem Cursor und nicht dem Nutzer; damit den Cursor dorthin zu kriegen, wo man ihn haben will, macht richtig Arbeit.

Das Interagieren mit dem 5-way des Kindle fühlt sich stark wie eine mittelmässige Smartphone-Oberfläche an, allerdings ist der 5-way schlimmer als der Mini-Trackball eines BlackBerry.

Dazu kommt: der Kindle ist langsam. Jedes Mal, wenn man einen Befehl eingibt, grübelt er erst ein bisschen, bevor er ihn ausführt. Selbst das Umblättern dauert etwas länger als es sollte, und alle anderen Aktionen sind auf jeden Fall schwerfällig.

Kurz gesagt: umständliches Anzeigen + langsame Reaktion = schlechtes Nutzererlebnis, was die Leute davon abhält, diverse Aufgaben auszuprobieren.

Schlechtes Design für nichtlineare Inhalte

Angenommen, Sie wollen die Artikel des Wall Street Journal über Technik (technology) sehen. Wo würden Sie auf diesem Screenshot klicken?

The Wall Street Journal auf dem Kindle 2

Jeder, den ich gefragt habe, sagte, er würde auf "Technology" klicken, um die Artikel dieses Gebiets zu sehen.

Falsch geraten. Dieser Klick bringt Sie nur zum ersten Artikel des Gebietes. Um eine Liste aller Artikel des Gebietes zu sehen, müssen Sie auf die in Klammern stehende Zahl klicken, die die Anzahl der Artikel anzeigt. In diesem Fall auf "(16)".

Das soll intuitiv sein? Keinesfalls. In der Tat, selbst nach zwei Wochen mache ich immer noch den Fehler, das einzig Natürliche zu tun: Ich klicke auf den Namen des Gebietes, um eine Liste der Artikel zu sehen.

(Wenn der Kindle ein Gerät mit Touchscreen oder eine mausbetriebene Nutzeroberfläche wäre, würde ich mich ausserdem über die Folgen des Fittschen Gesetzes beschweren, wenn man für die wichtigste Option das kleinste Klickziel anbietet. Bei der 5-way-Steuerung ist es allerdings gleichgültig, ob man ein kleines oder ein grosses Ziel auswählt; in der Tat, das ist ihre einzige ausgleichende Qualität. Doch auch so bleibt es schlechtes Oberflächendesign, wenn man die wichtigsten Befehle winzig darstellt und so ihre visuelle Auffälligkeit reduziert.)

Das Usability-Problem mit nichtlinearen Inhalten ist schwerwiegend, weil dahinter noch ein tieferes Problem steckt: Das Nutzererlebnis des Kindle wird von der Buch-Metapher beherrscht. Der Gedanke, dass man mit der ersten Seite eines Abschnitts beginnt, passt zu einem Buch, weil die meisten Bücher linear aufgebaut sind. Leider passt sie auf viele andere Sammlungen von Inhalten nicht, einschliesslich Zeitungen, Magazine und sogar einige Sachbücher wie Reiseführer, Lexika oder Kochbücher.

Das bedeutet: Die gleichen Design-Entscheidungen, die den Kindle zu einem guten Gerät für das Lesen von Romanen (und linearen Sachbüchern) machen, machen ihn zu einem schlechten Gerät für das Lesen nichtlinearer Inhalte. Sicher, die Amazon-Designer könnten ein paar einfache Dummheiten der Nutzeroberfläche reparieren wie zum Beispiel das Interaktionsdesign für das Inhaltsverzeichnis einer Zeitung. Aber das wäre nur ein Heftpflaster. Um das nichtlineare Nutzererlebnis wirklich zu optimieren, müssten sie das Design des Kindle komplett neu konzipieren.

Der Kindle-Reader auf dem iPhone

Amazon bietet auch eine iPhone-Anwendung an, die E-Books im Kindle-Format anzeigen kann. Bei meinem Test hatte das iPhone eine um 6% geringere Lesegeschwindigkeit als der Kindle 2.

(Wie beim Vergleich von Kindle und gedrucktem Buch basiert diese Messung auf zu wenigen Daten, um valide zu sein. Sie ist eine erste Schätzung, bis es eine grössere Studie gibt... Das wäre übrigens ein grossartiges Thema für eine Master-Arbeit. Wink mit dem Zaunpfahl!)

Ein Grund, warum man länger braucht, um ein Buch auf dem iPhone zu lesen als auf dem Kindle, ist die Zeit, die man zum Umblättern der Seiten braucht.

Wenn ich meine bevorzugte Schriftgrösse nehme, muss ich beim Lesen auf dem iPhone um 21% häufiger umblättern als beim Lesen auf dem Kindle. Bei der von der iPhone-Anwendung voreingestellten Schriftgrösse - die ich ein bisschen gross finde - muss man beim iPhone sogar um 100% häufiger umblättern.

Auch ist das Umblättern beim iPhone umständlicher, weil das iPhone keinen speziellen Knopf für diesen Zweck hat. Um die Seite umzublättern, muss man mit dem Finger über den Touchscreen fahren; das braucht mehr Zeit als einfach einen Knopf zu drücken, wenn der Daumen ohnehin die ganze Zeit auf dem Knopf bleibt.

Statt für das Umblättern eine eigene Geste vorzusehen, wäre es wohl besser, wenn man den Bildschirm einfach nur antippen müsste. (In der Tat sieht die konkurrierende Bücherlese-Anwendung Stanza vor, dass man den Bildschirm antippt, um eine Bildschirmseite weiterzublättern.) Bloss weil man beim iPhone Gesten nutzen kann, muss man das noch lange nicht immer tun.

Die Fingergeste ist das iPhone-typische Kommando fürs Scrollen und Weitergehen; wenn man es unterstützt, können die Nutzer ihre Erfahrung von anderen Anwendungen übertragen. Dennoch ist es bei einer ausgewiesenen Anwendung fürs Bücherlesen sinnvoll, zusätzlich einen Tastencode mit Aufzugsfunktion zu unterstützen; schliesslich ist nächste Seite beim Bücherlesen das Kommando, das die Nutzer in 90% aller Fälle aufrufen. (Solche Aufzüge sind eine der 10 wichtigsten Software-Heuristiken.)

Die iPhone-Anwendung für den Kindle ist eindeutig mit heisser Nadel gestrickt und verletzt viele Usability-Richtlinien für Anwendungen. So z. B. der Schieberegler, mit dem man sich schnell, in 10- bis 20-Seiten-Schritten, durch das Buch bewegen kann. Eine gute Idee, aber ohne dynamisches Feedback können die Nutzer nicht sehen, wo im Buch sie sich beim Bewegen des Schiebereglers gerade befinden. Die Seitenzahlen sagen ihnen wahrscheinlich wenig; ein dynamisches Feedback könnte z. B. Kapitel- und Abschnitts-Überschriften oder zumindest die jeweils erste Textzeile der Seite anzeigen, auf der man sich, entsprechend zur Position des Schiebereglers, gerade befindet.

Die Hilfe ist bloss ein Link zu einer Webseite von Amazon.com, die für PC-Bildschirme gedacht ist, was eine Schlüsselrichtlinie für die Gestaltung guter Nutzerschnittstellen für mobile Nutzer verletzt. Wäre es zu viel verlangt gewesen, für eine Woche einen Texter zu engagieren, um einen speziellen Satz von Gebrauchsanweisungen zu kreieren, der innerhalb der Anwendung selbst läuft?

Die iPhone-Anwendung für den Kindle zeigt die Textseiten im Blocksatz an (d. h. links- und rechtsbündig geschrieben). Das reduziert die Lesbarkeit etwas, besonders bei den schmalen Spalten des Telefonbildschirms. Stanza dagegen verwendet nur linksbündigen Text, was eine bessere Wahl ist.

Integration mehrerer Geräte

Auch wenn die 1.0-version der Kindle-iPhone-Anwendung eine schlechte Usability hat, glänzt sie bei der Integration des Kindle und der Amazon.com-Website. Dies ist eines der ersten guten Beispiele für die Unterstützung unterschiedlicher Computer und die Verwendung drahtloser Verbindungen zu diesem Zweck.

Sie können auf der Website über Ihren Arbeitsplatz-Computer und seine bessere Browsing-Usability ein Buch kaufen. Sie können das Buch zu Hause auf Ihrem Kindle 2 lesen oder auf Ihrem iPhone, wenn Sie im Warteraum des Zahnarztes sitzen. In der Tat, Sie können das gleiche Buch abwechselnd auf beiden Geräten lesen; sie koordinieren sich automatisch, und Sie finden im Buch immer sofort die Stelle wieder, an der Sie auf dem anderen Bildschirm aufgehört haben zu lesen.

Man hat eine Menge dafür getan, damit die Nutzer direkt mit dem Kindle ein Buch kaufen können. Aber es ist nach wie vor viel einfacher, Bücher über einen voll ausgestatteten PC und die komplette Amazon.com-Website zu kaufen. Ich denke, sie sollten die Kindle-Tastatur weglassen und stattdessen den Bildschirm grösser machen.

Dennoch: Amazon verdient Lob für die reibungslose Integration des Kaufs auf dem PC mit dem Lesen auf dem Kindle. Wenn Sie sich in den USA und in einem drahtlosen Netz befinden, reicht ein Klick auf dem PC, und das Buch erscheint ohne irgendeine Installation auf dem Kindle.

Elektronische Bücher: eine gute oder eine schlechte Idee?

Vor 11 Jahren habe ich geschrieben, elektronische Bücher seien eine schlechte Idee. Hat der Kindle 2 meine Meinung geändert?

Ja, das hat er.

Zwei Faktoren haben mich überzeugt: a) die mit Druckwerken vergleichbare Lesbarkeit; b) die Integration vielfältiger Geräte.

Ich denke nun, es ist nützlich, ein Informationsgerät zu haben, das auf das Lesen von Belletristik und linearen Sachbüchern spezialisiert ist, die ohne Illustrationen auskommen und bei denen man nicht zwischen den Kapiteln hin und her blättern muss.

Für Leute, die auf Reisen sind oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln pendeln, können E-Books aus mehreren Gründen sinnvoll sein:

  • Man hat weniger Gewicht mit sich herumzuschleppen (zehn Bücher auf einem Gerät dabei zu haben wäre besonders nett gewesen bei meiner letzten Urlaubsreise zur Serengeti, bei der wir für eine zweiwöchige Safari nur 10 kg Gepäck mitnehmen durften)
  • Man bekommt keine schmutzigen Finger von der Druckerschwärze.
  • Das Umblättern ist leichter in einem überfüllten Zug oder Bus.

Das Synchronisieren mit dem iPhone erweitert die nützlichen Szenarios. Wenn Sie zum Beispiel beim Arzt warten müssen und Ihr spezielles Lesegerät nicht dabei haben, können Sie Ihr Handy nehmen und so die ansonsten verschwendete Zeit nutzen. Das Lesen auf unterschiedlichen Geräten ist ein Feld, auf dem der Kindle besser ist als das reale Leben: Er tut etwas, was ein gedrucktes Buch nicht kann.

Zu den Reisenden und Pendlern wird eine zweite grosse Nutzergruppe hinzukommen: Senioren und andere Leute, die nicht mehr gut sehen können. Grosse Schriftarten sind eine weitere Kindle-Funktion, die besser ist als das reale Leben. (Mehr dazu im Zusatzartikel "Accessibility and Speech Synthesis").

Für Leute allerdings, die zu Hause ein Buch lesen, sind gedruckte Bücher weiterhin optimal. Beim linearen Lesen hat der Kindle keine Vorteile, und bei nichtlinearen Inhalten hat er sogar etliche Nachteile - warum sollte man also 189 $ zusätzlich bezahlen?

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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