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15.01.2012

Laut Denken: das Usability-Werkzeug Nr. 1

Einfache Usability-Tests, bei denen die Nutzer laut denken, sind kostengünstig, robust, flexibel und leicht zu erlernen. Lautes Denken sollte das Werkzeug Nr. 1 in Ihrer UX-Toolbox sein, auch wenn es einige Risiken birgt und nicht alle Probleme löst.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 16.01.2012

 

"Laut Denken ist möglicherweise die einzige wirklich wertvolle Methode, die Usability zu entwickeln." Das habe ich 1993 in meinem Buch Usability Engineering geschrieben und ich stehe auch heute noch dazu. Die Tatsache, dass die gleiche Methode auch nach 19 Jahren noch die Nummer 1 ist, ist ein guter Indikator für die Langlebigkeit von Usability-Methoden.

Die Richtlinien für die Usability überdauern eine lange Zeit; Usability-Methoden halten noch länger. Das menschliche Verhalten verändert sich viel langsamer als die Technik, die wir alle so faszinierend finden und die besten Ansätze, dieses Verhalten zu studieren, verändern sich so gut wie gar nicht.

Definition von Laut-Denken-Tests

Um Laut Denken zu definieren, zitiere ich, was ich vor 19 Jahren gesagt habe:

Definition: Bei einem Laut-Denken-Test bitten Sie die Teilnehmer, ein System zu verwenden und währenddessen fortwährend laut zu denken - also einfach ihre Gedanken in Worte zu fassen, während sie sich durch die Nutzeroberfläche bewegen.

("Einfach" sollte hier in Anführungsstrichen stehen, da es für die meisten Menschen nicht einfach ist, einen Monolog zu halten. Der Studienleiter muss normalerweise die Nutzer dazu ermuntern, immer weiter zu sprechen.)

Um eine einfache Usability-Studie mit lautem Denken durchzuführen, müssen Sie nur drei Dinge tun:

  1. Rekrutieren Sie repräsentative Nutzer.
  2. Geben Sie ihnen repräsentative Aufgaben, die sie durchführen sollen.
  3. Seien Sie still und lassen Sie die Nutzer reden.

Vorteile der Laut-Denken-Methode

Die Methode hat eine Fülle an Vorteilen. Der wichtigste ist, sie öffnet ein Fenster zur Seele und offenbart Ihnen, was die Nutzer wirklich über Ihr Design denken. Vor allem werden Sie Zeuge ihrer Missverständnisse, was sich meistens in direkt umsetzbare Redesign-Empfehlungen verwandeln lässt: Wenn die Nutzer Designelemente missverstehen, müssen Sie sie ändern. Besser noch, Sie erfahren meist, warum sich die Nutzer unter einigen Teilen der Nutzeroberfläche etwas anderes vorstellen und warum sie andere leicht zu benutzen finden.

Die Laut-Denken-Methode bietet noch weitere Vorteile, denn sie ist

  • kostengünstig: Sie brauchen keine besondere Ausrüstung; Sie können sich einfach neben einen Nutzer setzen und sich Notizen machen, während er oder sie redet. Es dauert ungefähr einen Tag, Daten von einer Handvoll Nutzer zu sammeln, was ausreicht, um die wichtigsten Einblicke zu bekommen.
  • robust: Die meisten Leute sind schlechte Studienleiter und führen eine Studie nicht genau nach der richtigen Methodologie durch. Aber wenn Sie den Nutzern nicht gerade Vorurteile in den Mund legen, erhalten Sie trotzdem recht gut Ergebnisse, selbst bei einer schlecht durchgeführten Studie. Im Gegensatz dazu strotzen quantitative (statistische) Usability-Studien nur so von methodischen Problemen und schon der kleinste Fehler kann die Studie ruinieren und die Ergebnisse werden fehlgedeutet. Diese Studien sind ausserdem sehr teuer.
  • flexibel: Sie können diese Methode an jedem beliebigen Punkt des Entwicklungszyklus einsetzen, von Papierprototypen bis hin zu voll integrierten und laufenden Systemen. Laut Denken ist besonders für Agile-Projekte geeignet. Sie können mit Hilfe dieser Methode jede Art von Nutzeroberfläche mit jeder beliebigen Technologie evaluieren (allerdings ist es heikel, das Laut Denken bei sprachgesteuerten Oberflächen einzusetzen - ich verweise hier auf meinen Report "Wie man Usability-Evaluation zur Barrierefreiheit durchführt" mit Ratschlägen zum Testen von blinden oder sehbehinderten Nutzern, die Sprachausgaben wie JAWS verwenden). Ob Websites, Software-Anwendungen, Intranets, Konsumentenprodukte, Unternehmenssoftware, mobiles Design: egal. Laut Denken funktioniert mit allem, weil wir uns stets auf das Denken der Nutzer stützen.
  • überzeugend: Selbst die hartgesottensten Entwickler, die arrogantesten Designer und die geizigsten Führungskräfte werden weich, wenn sie mit dem konfrontiert werden, was die Nutzer über ihre Arbeit denken. Bringen Sie den Rest Ihres Teams (und das Management) dazu, ein paar Sitzungen der Laut-Denken-Tests beizuwohnen: Das nimmt nicht viel Zeit in Anspruch und ist der beste Weg, sie zu motivieren, der Usability mehr Beachtung zu schenken. (Mehr dazu, wie Sie Teams motivieren, erstklassige Nutzererfahrungen zu liefern, finden Sie im Kurs "Usability verkaufen: Kollegen und Manager überzeugen.")
  • leicht zu erlernen: Wir unterrichten die Grundlagen in einem Tag und bieten gründliches Training in einem 3-Tages-Seminar an. Natürlich beherrschen sie dann noch nicht alle Kniffe und Fortgeschrittenentechniken, die Sie brauchen, um die Fahne "Usability-Berater" heraushängen zu können, aber im Grunde brauchen Sie diese Extras auch nicht, wenn Sie einfache Tests für Ihr Designteam durchführen wollen.

Nachteile der Laut-Denken-Methode

Niedriger Preis und Robustheit sind deutliche Vorteile von qualitativen Methoden wie der Laut-Denken-Methode. Aber die Kehrseite ist, dass sich diese Methoden nicht eignen, detaillierte Statistiken zu ermitteln, es sei denn, Sie führen eine gigantische und teure Studie durch. Das können Sie natürlich machen, ich empfehle es aber nicht für die Mehrzahl der Projekte. Sparen Sie lieber Ihr Budget und investieren Sie in iteratives Design.

Andere Probleme sind

  • die unnatürliche Situation: Wenn sie nicht gerade etwas seltsam sind, sitzen die meisten Menschen nicht einfach da und reden den ganzen Tag mit sich selbst. Das macht es schwer für die Probanden, den erwünschten Monolog aufrecht zu erhalten. Glücklicherweise geben die meisten Testnutzer ihr Bestes und engagieren sich so stark für die Testaufgaben, dass sie fast vergessen, dass sie in einer Studiensituation sind.
  • gefilterte Äusserungen (statt freiem Gedankenfluss): Die Nutzer sollen die Dinge so sagen, wie sie ihnen in den Sinn kommen und nicht erst über ihre Erfahrungen nachdenken, um am Ende einen wohl überlegten Kommentar abzugeben. Trotzdem wollen die meisten Menschen nicht dumm dastehen, und daher besteht das Risiko, dass sie erst die Sache durchdenken, bevor sie sich äussern. Tappen Sie nicht in diese Falle: Es ist essentiell, dass sie den ungefilterten Gedankenfluss der Nutzer bekommen. Normalerweise müssen Sie die Nutzer daher immer wieder zum Weitersprechen ermuntern.
  • Einflussnahmen auf das Nutzerverhalten: Aufforderungen oder klärende Fragen sind meistens notwendig, aber bei einem ungeschulten Studienleiter können solche Unterbrechungen sehr schnell das Nutzerverhalten verändern. In solchen Fällen repräsentiert das resultierende Verhalten keine reale Verwendungssituation, so dass Sie keine Designentscheidungen daraus ableiten können. Versuchen Sie zumindest, die Fälle zu identifizieren, in denen Sie den Nutzer beeinflusst haben und nehmen Sie diese aus der Studie. (Es ist schlimmer, wenn Sie nicht wissen, was Sie falsch gemacht haben - damit riskieren Sie, Ihrem Designteam falsche Ratschläge zu geben.)
  • kein Patentrezept: Dass diese eine Methode nicht das einzige Usability-Werkzeug ist, das Sie jemals brauchen werden, ist kein echter Nachteil, solange Sie bereit sind, von Zeit zu Zeit auch andere Methoden auszuprobieren. Laut Denken dient vielen Zwecken, aber eben nicht allen. Sobald Sie mehrere Jahre an Erfahrung mit der Usability gesammelt haben, werden Sie ein grösseres Spektrum an Nutzerforschungsmethoden verwenden wollen.

Lassen Sie sich von den Nachteilen nicht entmutigen. Wenn Sie es noch nie vorher ausprobiert haben, führen Sie eine schnelle Laut-Denken-Studie an Ihrem aktuellen Design-Projekt durch. Da diese vereinfachten Studien so kostengünstig sind, sind sogar wöchentliche Nutzertests machbar - wenn Sie also jetzt ein paar Fehler machen, können Sie sie in der nächsten Woche wieder korrigieren.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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