Der Zustand der mobilen UX
Unsere aktuelle Forschung im Bereich der mobilen Usability zeigt eine Verbesserung der mobilen UX. Der Responsive-Design Trend hat Sites und Apps dazu inspiriert, Inhalte mit einer höheren Priorität zu versehen als UI-Elemente und somit essentielle Inhalte und Features einzubeziehen.
by Raluca Budiu (deutsche Übersetzung) - 22.03.2015
Unsere 3. Ausgabe des Berichts über mobile UX-Richtlinien (engl.) liess mich darüber nachdenken, wie sich dieses Fachgebiet in den letzten 7 Jahren verändert hat. Im Jahr 2009 bezeichnete Jakob Nielsen die mobile Usability als Widerspruch an sich: die Usability der meisten Sites war fürchterlich, da Designer den Designraum erkundeten und verschiedene Alternativen testeten. Heute können wir mit Überzeugung sagen, dass sich die mobile Usability verbessert hat und viele Sites eine akzeptable Usability aufweisen - auch wenn sie über ein Handy aufgerufen werden.
Genau wie die Mode, treten auch im Bereich des Designs von Nutzeroberflächen wiederholt Trends auf und jedes Jahr bringt seine neuen Modetrends mit sich. Skeumorphismus, Flat Design, Akkordeons, Tabs, Hamburger, Gesten, unendliche Listen, Mini-Informationsarchitektur: in den vergangenen Jahren sahen wir zahlreiche dieser Trends kommen und gehen - um dann wieder zurückzukommen. Einige gibt es bereits seit den Anfängen des mobilen Internets.
Wodurch wurde also die aktuelle Veränderung der mobilen Usability hervorgerufen?
Zum Teil ist es einfach die Erfahrung mit dem Medium: wir gestalten jetzt bereits seit 9 Jahren für Handys, wenn man ab dem Jahr 2007 rechnet, in dem das iPhone herauskam. Das ist wesentlich kürzer als unsere Erfahrung mit dem Desktop-Internet, aber dennoch genug Zeit, um Design-Alternativen zu erforschen und damit zu experimentieren.
Ein weiterer Grund ist, dass die meisten Websites endlich verstanden haben, dass ein auf mobile Geräte abgestimmtes Erlebnis angeboten werden muss. Unsere vorhergehenden Versionen des Berichts versuchten, Unternehmen von der Notwendigkeit zu überzeugen, die UX an mobile Geräte anzupassen. Wir glauben nicht, dass das heute noch nötig ist: die meisten Unternehmen haben verstanden, dass sie nicht einfach das komplette Website-Erlebnis am Handy anbieten können Wir müssen nicht mehr argumentieren, warum eine für mobile Geräte optimierte UX notwendig ist.
Zu guter Letzt hatte die Popularität des Responsive-Webdesigns (RWD) eine insgesamt positive Auswirkung auf die mobile Usability.
Die Auswirkungen des Responsive-Designs auf die mobile Usability
Vor kurzem fragte mich jemand auf Twitter, ob ich auch im Jahr 2015 noch "mobile Websites dem Responsive-Design vorziehe". Diese Aussage bezog sich auf unser Buch Mobile Usability (engl.) und auf Jakob Nielsens kontroversen und oft missverstandenen Artikel Mobile Webseite vs. Desktop-Seite.
Die kurze Antwort lautet nein, ich ziehe weder mobile Sites noch responsive Websites vor. Ich mag Sites, die das bestmögliche Nutzererlebnis bieten - unabhängig vom Typ der Site. Manchmal wird das beste Erlebnis auf einer speziellen mobilen Website geboten, manchmal auf einer responsiven Seite.
In Wahrheit ist es Nutzern egal, ob eine Website responsiv ist oder nicht: sie sehen den Unterschied zwischen einer mobil ausgerichteten Site und einer Responsive-Website nicht. Für sie ist alles, das nicht wie die Desktop-Seite aussieht, eine mobile Site. Falls mobile Websites eine schlechte Usability aufweisen, dann sind sie nicht „für mobile Geräte optimiert“. (Vor nur einem Monat beschwerte sich eine Teilnehmerin unserer Studien, dass die Website des Boston Globe, eine der berühmtesten Websites mit einem Responsive-Design, nicht für mobile Geräte optimiert ist, da die Seiten zu lang sind und sie das Gesuchte nicht finden konnte.)
In Bezug auf die Usability ist es egal, ob die Seite responsiv oder für mobile Geräte optimiert ist - sie müssen alle dieselben Regeln des mobilen Designs einhalten. Einige argumentieren, dass Inhalts- und Funktionsparität Responsive vom mobilen Design unterschieden. Das ist allerdings nicht notwendigerweise der Fall: es gibt Responsive-Websites, die nicht die komplette Funktionsauswahl oder Inhalte der Desktop-Seiten enthalten, und es gibt mobile Websites, die Inhalts und Funktionsparität aufweisen. Ausserdem ist für viele Websites Inhalts- und Funktionsparität die richtige Antwort, während ein gutes mobiles Erlebnis für andere Seiten bedeutet, dass Inhalte und Funktionen reduziert werden.
Der Unterschied zwischen RWD und mobilen Designs sind vor allem die Strategie und das Implementierungsniveau: hinter Responsive-Websites steckt EIN Content Repository und eine einheitliche Strategie. So betrachtet macht es definitiv Sinn, doppelte Arbeit zu vermeiden und dieselben Inhalte auf allen Seiten zu veröffentlichen.
Es ist aber nicht das Responsive-Design selbst, über das ich sprechen möchte. Ich möchte über den Einfluss des Responsive-Designs auf die mobile Usability in den letzten Jahren sprechen. Und ich glaube, dass es insgesamt einen positiven Einfluss hatte und in den letzten Jahren signifikante Fortschritte gemacht wurden.
Da das RWD häufig mit einem Design für mobile Geräte beginnt, sahen wir ein erhöhtes Bewusstsein für grundlegende Prinzipien der mobilen Usability. Diese Prinzipien gab es seit den Anfängen des mobilen Internets, die Popularität des RWD rückte sie allerdings in den Fokus und machte sie sichtbarer.
Erstens ist, wie bereits erwähnt, die Inhalts- und Funktionsparität nicht, was eine für mobile Geräte optimierte Seite von einer Responsive-Website unterscheidet. Obwohl nicht alle Responsive-Websites auf mobilen Geräten dieselben Funktionen und Inhalte enthalten, machte es das RWD klar, dass zumindest eine Form von Inhalts- und Funktionsparität in vielen Fällen wünschenswert ist. Das Resultat ist, dass den meisten Unternehmen die Notwendigkeit eines vernünftigen mobilen Erlebnisses bewusst wurde, das nicht auf 2-3 zufällig ausgewählte Inhaltsfetzen reduziert wurde. Vor nur wenigen Jahren enthielt die mobile Website von IKEA nur ein einziges Bett in seiner Liste von Schlafzimmermöbeln. Jetzt verstehen die meisten Websites, dass mobile Inhalte nicht willkürlich limitiert werden können. Die Antwort auf eine Frage sollte immer dieselbe sein, egal wo sie gestellt wird: mobil, Desktop, Tablet.
Die zweite grosse Auswirkung des Responsive-Designs war ein erhöhtes Bewusstsein dafür, dass auf mobilen Geräten Inhalte wichtiger sind als Chrome ("Chrome" bezieht sich auf alle Elemente der Nutzeroberfläche: Buttons, Menüs, Links und so weiter). Das bedeutet aber nicht, dass Designer das ideale Inhalts-Chrome-Verhältnis für mobile Geräte gefunden haben: sie lernen ständig weiter und experimentieren mit Navigationen, die in Hamburger-Menüs versteckt, in Tableisten anzeigt oder in engen Navigationsleisten zusammengefasst werden. Designer scheinen sich aber endlich einig zu sein, dass bei der Optimierung für mobile Geräte der Fokus auf dem Inhalt liegen muss.
Zu guter Letzt wurden einige der Techniken, von denen Responsive-Websites oft profitieren (z.B. Sticky Navigation, Nach-oben-Buttons, Akkordeons und sogar das vieldiskutierte Hamburger-Menü), von anderen Websites und Apps übernommen - häufig mit dem Resultat der verbesserten Usability. (Eine Anmerkung zum Hamburger-Menü für die Navigation: es reduziert zwar die Auffindbarkeit der Navigation auf mobilen Geräten, für einige Websites oder Apps könnte es aber dennoch die beste Lösung sein.)
Was Designer noch lernen müssen
Wenn das RWD dabei half, die mobile Usability zu verbessern, bedeutet das dann, dass Responsive-Websites auf mobilen Geräten besser nutzbar sind? Nicht unbedingt. Das RWD brachte die Inhaltspriorisierung (engl.) und die Inhaltsparität ins Gespräch und mobile Designs profitierten im Grossen und Ganzen davon. Doch das RWD hatte auch negative Auswirkungen auf die mobile Usability, von denen jene der superlangen Seiten wahrscheinlich die wichtigste ist. Designern wurde mitgeteilt, dass der Fold keine Rolle spielt, da Nutzer aufgrund des winzigen Bildschirms von mobilen Geräten ohnehin scrollen müssen. Ja, sie scrollen, aber nur wenn sie dazu motiviert werden. Es gibt auch Möglichkeiten, lange Websites nutzerfreundlicher zu gestalten, die von guten Websites auch genutzt werden. Lange Seiten können zum Beispiel gut mit Mini-Informationsarchitekturen - Mini-Inhaltsverzeichnissen am Anfang der Seite - die Nutzern mitteilen, worum es auf der Seite geht, und die direkten Zugriff auf die verschiedenen Bereiche ermöglichen, verbunden werden. Lange mobile Seiten funktionieren auch gut mit Akkordeons, mit Sticky Navigationen und mit Nach-oben-Buttons. Immer mehr Websites, responsiv oder nicht, nutzen diese Funktionen, obwohl sie sich im Gegensatz zu den Hamburger-Menüs noch nicht als Mainstream-Konzepte etablieren konnten.
Ein weiteres wichtiges Problem, das von Designern oft nicht verstanden wird, ist, dass mobile Inhalte mehrschichtig sein müssen. Das bedeutet nicht, dass wir sie willkürlich kürzen oder verbergen sollen (was leider viele tun), sondern dass wir den Hauptinhalt mit einer höheren Priorität versehen müssen, während weiterführende Details auf sekundären Websites Platz finden.
Schliesslich müssen wir lernen, wie wir unsere Desktop-basierte, tiefe Informationsarchitektur in eine 2-Stufen-Navigation umwandeln können, die auf mobilen Geräten verwendet werden kann. Eine tiefe Informationsarchitektur (die am Desktop häufig durch überlappende Menüs unterstützt wird) lässt sich auf mobilen Geräten nicht gut wiedergeben: sie zwingt Nutzer meist, zu viele Schritte zu absolvieren, um den Inhalt zu erreichen.
Was bedeutet das für Desktop-Nutzer?
Leider könnte ich einen fast gegenteiligen Artikel über den Einfluss des Responsive-Designs auf die Usability von Desktop-Seiten schreiben. Die Idee, mit einem RWD zu beginnen, indem für mobile Geräte designt wird, eignet sich gut für mobile Anwendungen, ist allerdings katastrophal für den Desktop. Auf Desktops sahen wir in letzter Zeit lange Seiten ohne Informationen, verborgene Navigationen (engl.) und Suchfunktionen, sowie grosse Bilder und ein schlecht umgesetztes Konzept der Priorisierung von Inhalten gegenüber Chrome. Leider können wir nicht nur für ein Gerät designen, wenn die Nutzer über mehrere Plattformen verteilt sind: wir müssen die Besonderheiten und Stärken jedes Geräts berücksichtigen und unsere Designs anpassen, damit die Kapazität des Kommunikationskanals mit dem Gerät übereinstimmt.
Neuer Forschungsbericht
Unsere zahlreichen Erkenntnisse und Richtlinien betreffend die mobile Usability wurden in unserem neuen Bericht Mobiles Nutzererlebnis (engl.) zusammengefasst. Es handelt sich um die aktuellste, dritte Edition, welche komplett neu erstellt und gründlich überarbeitet wurde. Viele Richtlinien reflektieren die aktuellen mobilen Muster und Interaktionen. Alte Richtlinien, die immer noch gültig sind, wurden durch neue Beispiele ergänzt.
© Deutsche Version. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.
Kommentare auf diesen Beitrag