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09.06.2008

Schreibstil für Print und Schreibstil fürs Web

Linear oder nicht-linear. Autorbestimmt oder Leserbestimmt. Geschichten erzählen oder unbarmherzige Jagd nach manipulierbaren Inhalten. Anekdotische Beispiele oder komprimierte Daten. Sätze oder Fragmente.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 09.06.2008

 

Ich habe in vielen Kolumnen über die Unterschiede zwischen Internet und Fernsehen geschrieben, die man kurz zusammenfassen kann in der Alternative "sich zurücklehnen oder sich vorbeugen":

  • Im Web sind die Nutzer engagiert und wollen irgendwo hingehen und dort etwas erledigen. Das Web ist ein aktives Medium.
  • Wenn man fernsieht, will man als Zuschauer unterhalten werden. Man stellt um auf Entspannung und Abhängen. Man will nicht wählen müssen. Fernsehen ist ein passives Medium.

Das heisst nicht, dass es keine unterhaltsamen Websites oder informative Fernsehsendungen geben kann. Aber es heisst, dass die entgegen gesetzten Stile dieser beiden Medien unterschiedliche Ansätze für Unterhaltung und Bildung erfordern.

Die Unterschiede zwischen Druckwerken und dem Web mögen weniger gross erscheinen, aber um optimale Ergebnisse zu erzielen, erfordert jedes Medium einen eigenen Textstil.

Zum Beispiel: Tall Travelers (Grosse Touristen)

Neulich habe ich in der New York Times einen Artikel über die Probleme grosser Menschen beim Reisen gelesen: "Coping With the Tall Traveler's Curse". Die Schlagzeile ist ein gutes Beispiel für die Unterschiede zwischen dem Stil gedruckter Texte und dem Stil von Online-Texten:

  • Gedruckt wirkt eine Formulierung wie "Der Fluch der Grösse" durchaus verlockend und kann Leser anziehen. Weil der Artikel auch ein Foto von einem langen Lulatsch zeigte, der sich gerade auf dem Rücksitz eines Taxis zusammenfaltet, war das Thema für jeden klar, der einen Blick auf die Seite warf.
  • Im Gegensatz dazu würde die gleiche Schlagzeile online gegen mehrere Richtlinien des Schreibens fürs Web verstossen:

    • Die ersten drei Wörter haben keine informative Bedeutung. Im Web muss man mit Wörtern wie "Grosse Touristen" beginnen, weil die Nutzer oft den linken Rand von aufgelisteten Themen überfliegen. Wenn die ersten Wörter sie nicht aufmerksam machen, sehen sie die hinteren Wörter eines Links gar nicht.
    • Der Schlagzeile fehlen Schlüsselwörter wie "Flugzeugsitze" oder "Hotelbetten", die für die Suchmaschinen-Optimierung wichtig sind. Niemand sucht das Wort "Fluch", wenn er herausfinden will, welche Hotels extralange Betten anbieten oder welche Fluglinie Sitze hat, die für Reisende mit langen Beinen weniger unbequem sind als üblich.
    • Die Worte "Der Fluch der Grösse" sind nicht spezifisch genug, um den Nutzern sagen zu können, wovon die Geschichte handelt. Weil Schlagzeilen oft losgelöst vom Artikel als reiner Link präsentiert werden, ist in einem solchen Fall das Foto von dem armen Kerl im Taxi nicht da, um zu sagen, worum es geht. Im Internet muss die Schlagzeile alleine eine genügend starke "Informationsfährte" haben, damit die Nutzer voraussehen können, was sie bekommen, wenn sie den Link anklicken.

Obwohl ich selber nicht gerade gross bin, habe ich in der gedruckten Zeitung den ganzen Artikel gelesen. Warum? Weil er gut geschrieben war und einige interessante Anekdoten über grosse Geschäftsreisende enthielt, bis hin zur Geschichte einer grossen Managerin, die sich in einem Hotelzimmer hinknien musste, um einen Kosmetikspiegel nutzen zu können.

Auf nytimes.com hätte ich denselben Artikel niemals gelesen, weil es der Geschichte sowohl an Dringlichkeit als auch an Nützlichkeit fehlte. zwar hätte der Artikel auch Online sicher ein paar Seitenabrufen bekommen, aber sein Stil ist nicht optimal, um Informationen im Web zu präsentieren.

Das Internet belohnt umfangreiche Abhandlungen, die spezifischer sind als gedruckte Texte. Im Web sollte ein Artikel für grosse Reisende zum Beispiel Ranglisten von Flugzeugsitzen und Hotelbetten der grossen Fluglinien und Hotelketten anbieten. Noch besser wäre es, dabei zwischen grossen Männern und grossen Frauen sowie zwischen etwas grösseren und riesenhaften Menschen zu differenzieren.

Dieser detailliertere Ansatz funktioniert online, weil dort der Inhalt durchsuchbar ist, weil man ihn sortieren und jedem Nutzer eine persönliche Ansicht zeigen kann. Angenommen z.B., Sie sind 2 Meter gross wie der Mann auf dem Foto des Artikels, und sie wollen mit United Airlines von San Francisco nach Chicago fliegen. Eine gute Webseite würde Ihnen sagen, welches abfliegende Flugzeug die beste Sitzaufteilung für Sie hat und welchen Sitz Sie buchen sollten.

Erzählender oder praktisch umsetzbarer Inhalt

Gedruckte Publikationen - von Zeitungsartikeln bis hin zu Marketingbroschüren - enthalten lineare Inhalte, die oft in einer entspannteren Haltung konsumiert werden als in jenem Lösungsjagdverhalten, das charakteristisch ist für den hochwertigen Internetgebrauch.

In gedruckten Texten kann man die lineare Erzählung mit Anekdoten und individuellen Beispielen aufpeppen; der Ansatz ist eher das Geschichten-Erzählen. Im Internet wirken solche Inhalte oft als Füller; sie bremsen die Nutzer ab und stehen ihnen im Weg, wenn sie zum Punkt kommen wollen.

Zum Beispiel wirkt in gedruckter Form eine Abhandlung über Räume im Palms Casino Resort in Las Vegas, die für grosse Menschen geeignet sind, durchaus interessant. Online ist das nicht der Fall, wenn ein Nutzer nach solchen Räumen in Chicago sucht (oder wo auch immer er oder sie nächste Woche hinreisen will).

Webtexte müssen knapp formuliert sein und schnell auf den Punkt kommen, weil die Nutzer wahrscheinlich von einer bestimmten Aufgabe getrieben sind. In vielen Fällen haben sie die Seite über eine Suche erreicht. Web-Nutzer wollen praktisch umsetzbare Inhalte; sie wollen ihre Zeit nicht mit (zu anderer Gelegenheit vergnüglichen) Geschichten verplempern, die ihre aktuellen Vorhaben nur am Rande berühren.

Anstatt eine vorgefertigte Erzählung zu liefern, müssen Websites die persönliche Geschichte des Nutzers unterstützen, indem sie grosse Mengen von Informationen zu etwas kondensieren und kombinieren, das haargenau zu den aktuellen Bedürfnissen des Nutzers passt. Das heisst im Web tritt eine vom Nutzer betriebene Erzählung an die Stelle der vom Autor betriebenen.

Die erzählende Darstellung im Gedruckten ruft nach wohl formulierten, kompletten Sätzen. Online ist das weniger der Fall. In Fragmenten kann man oft die informationsträchtigen Schlüsselwörter an den Anfang stellen und gleichzeitig überflüssigen Blabla-Text wegstreichen. Da Webnutzer nur 18% von jedem zusätzlichen Text lesen, lohnt sich das Streichen von Wörtern, auch wenn MS Word die Satzfragmente mit anklagenden Schlangenlinien versehen wird.

E-Learning: ein Paradoxon?

Ich glaube weiterhin an die lineare, vom Autor betriebene Erzählung für Bildungszwecke. Ich glaube einfach nicht, dass das Web optimal ist, um solche Erfahrungen zu vermitteln. Lasst uns stattdessen alte Erzählformen wie das Buch anpreisen oder die Runde um ein flackerndes Lagerfeuer - oder ihr modernes Gegenstück, den PowerPoint-Projector -, die man seit 500 bzw. 32.000 Jahren pflegt.

Ich schreibe weiterhin Bücher, und ich entwickle weiterhin Trainingsseminare, weil ich glaube, dass diese Medien am besten sind, um neue Konzepte gründlich zu erlernen.

Wir sollten akzeptieren, dass das Internet für das Lernen im Grossen zu atemlos ist. Das ist kein Problem; wir haben auch andere Medien, und jedes hat seine Stärke. Zugleich ist das Internet perfekt für das gezielte und kurzfristige Erlernen von Informationshäppchen - soweit der Lernende bereits einen konzeptionellen Rahmen präsent hat, um die Fakten sinnvoll einordnen zu können.

Beispielsweise habe ich das "Lernen am Lagerfeuer" auf die Zeit vor 32.000 Jahren terminiert, also mit dem Aufkommen der Hochkulturen und der Cro-Magnon-Menschen zusammengebracht. Nicht, dass die Neandertaler keine Lagerfeuer besessen hätten - sie hatten einfach nicht die kulturelle Tiefe der modernen Menschen, deshalb denke ich nicht, dass ihr Geschichten-Erzählen dem in meinen Seminaren glich. Habe ich mich wirklich daran erinnert, dass die Cro-Magnon-Kultur vor 32.000 Jahren mit den Höhlenmalereien von Lascaux begann? Nein, dieses kleine Faktum habe ich online nachgeschlagen.

Für egoistische Leser schreiben

In linearen Medien, wie Druckwerken und Fernsehen, erwarten die Leute, dass man an ihrer Stelle ein Erlebnis konstruiert. Die Leser sind bereit, der Führung des Autors zu folgen.

Im nicht-linearen Hypertext kehren sich die Regeln um. Die Nutzer wollen ihr eigenes Erlebnis konstruieren, indem sie Inhalte aus vielfältigen Quellen zusammenstückeln und dabei ihre aktuellen Wünsche im Blick haben. Die Leute kommen mit einer bestimmten Absicht auf eine Website, und unerbittlich verfolgen sie ihr eigenes Interesse und weisen alles zurück, was die Website forcieren will. Die Banner-Blindheit ist nur die extremste Manifestation dieses Egoismus.

Besonders auf kommerziellen Websites - egal ob B-to-C E-Commerce oder spezielle B-to-B-Websites - picken sich die Nutzer die Rosinen aus den Informationen heraus und konzentrieren sich ganz eng auf das, was sie haben wollen. Wenn Sie klug sind, schreiben Sie Ihren Text entsprechend: Machen Sie Ihre Inhalte praktisch verwendbar und legen Sie sie in den Fokus der Nutzerbedürfnisse.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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