Ungleiche Beteiligung: Wie man mehr Nutzer zu Beiträgen ermutigt
In den meisten Online-Communities sind 90% der Nutzer Kiebitze, die nie selber etwas beitragen, 9% schreiben ein bisschen hinein und 1% der Nutzer sorgen für fast alles, was dort geschieht.
by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 09.10.2006
Alle gross angelegten, viele Nutzer umfassenden Communities und sozialen Online-Netzwerke, die sich darauf verlassen, dass Nutzer Inhalte beisteuern oder Dienste aufbauen, haben eines gemeinsam: Die meisten Nutzer beteiligen sich kaum. Oft kiebitzen sie bloss im Hintergrund.
Im Unterschied dazu ist eine winzige Minderheit der Nutzer gewöhnlich für einen überproportional grossen Anteil der Inhalte und anderer System-Aktivitäten verantwortlich. Dieses Phänomen der ungleichen Beteiligung hat Will Hill in den frühen 1990er Jahren erstmals gründlich erforscht, als er im gleichen Flur wie ich bei Bell Communications Research gearbeitet hat (siehe Referenzen unten).
Wenn man die Summe der Aktivitäten für jeden Nutzer visualisiert, entsteht eine Zipf-Kurve, die in einem doppellogarithmischen Diagramm als gerade Linie erscheint.
Die Beteiligung der Nutzer folgt oft mehr oder weniger einer 90:9:1-Regel:
- 90% der Nutzer sind Kiebitze (d. h. sie lesen und beobachten, ohne etwas beizutragen).
- 9% der Nutzer tragen von Zeit zu Zeit etwas bei, haben aber überwiegend andere Prioritäten.
- 1% der Nutzer beteiligen sich stark und sind für die meisten Beiträge verantwortlich: Manchmal scheint es, als führten sie gar kein eigenes Leben, weil oft schon Minuten nach irgendeinem Ereignis ihr Kommentar dazu erscheint.
Frühe Forschungsergebnisse zur Ungleichheit
Bevor es das Web gab, haben Forscher bereits die ungleiche Beteiligung an Medien wie Usenet-Newsgroups, CompuServe-Bulletin-Boards, Internet-Mailinglisten oder internen Diskussionsforen grosser Unternehmen dokumentiert. Eine Untersuchung von über 2 Millionen Nachrichten im Usenet hat ergeben, dass 27% der Beiträge von Leuten stammten, die nur eine einzige Nachricht hinterlassen hatten. Die aktivsten 3% der Autoren hatten dagegen 25% aller Nachrichten verfasst.
Nach der Usenet-Studie von Whittaker u. a. war es für einen zufällig herausgegriffenen Beitrag gleich wahrscheinlich, von einem der 580.000 Gelegenheits-Autoren zu stammen wie von einem der 19.000 ständigen Autoren. Wenn Sie die "Befindlichkeiten einer Community" einschätzen wollen, ist es offensichtlich hochgradig unfair, wenn die 19.000 Mitglieder der einen Untergruppe gleich stark vertreten sind wie die 580.000 Mitglieder einer anderen Untergruppe. Wichtiger noch, solche Ungleichheiten würden Ihnen ein Zerrbild der Community vermitteln, weil mit Sicherheit grosse Unterschiede zwischen Leuten existieren, die viel beitragen, und Leuten, die wenig beitragen. Und von der schweigenden Mehrheit der Kiebitze würden Sie überhaupt nie etwas hören.
Ungleichheiten im Web
Es gibt etwa 1,1 Milliarden Internet-Nutzer, aber nur 55 Millionen Nutzer (5%) haben laut Technorati Weblogs. Schlimmer noch, es gibt nur 1,6 Millionen Einträge pro Tag; weil einige Leute mehrmals am Tag etwas eintragen, heisst das, nur 0,1% der Nutzer tragen täglich etwas ein.
Blogs haben eine noch ungleichmässigere Beteiligung als die, die sich in der 90:9:1-Regel der meisten Communities manifestiert. Bei Blogs gilt eher die Regel 95:5:0,1.
Auch bei der Wikipedia findet man eine Ungleichheit, bei der über 99% der Nutzer Kiebitze sind. Laut der "Über-uns"-Seite der englischen Wikipedia hat sie nur 68.000 Autoren; das sind 0,2% der 32 Millionen einmaligen Besucher, die sie allein in den USA hat.
Die aktivsten 1000 Wikipedianer - 0,003% ihrer Nutzer - liefern etwa zwei Drittel aller Überarbeitungen der Website. Die Wikipedia ist also noch asymmetrischer als Blogs mit einer Verteilung 99,8 : 0,2 : 0,003.
Ungleiche Beteiligungen existieren an vielen Stellen im Web. Ein kurzer Blick auf Amazon.com zum Beispiel zeigt, dass die Website Tausende von Exemplaren eines Buches verkauft hat, für das es nur 12 Rezensionen gab, was bedeutet: Weniger als 1% der Kunden liefern Rezensionen ab.
Mehr noch: Zu dem Zeitpunkt, an dem ich diese Zeilen geschrieben habe, stammten 167.113 Buchrezensionen bei Amazon von einigen wenigen Top-100-Rezensenten; der eifrigste Rezensent hatte gar 12.423 Rezensionen geschrieben. Wie irgendjemand so viele Rezensionen schreiben kann - oder auch nur so viele Bücher lesen - ist mir unbegreiflich, aber das ist ein klassisches Beispiel für ungleiche Beteiligung.
Die Kehrseite der ungleichen Beteiligung
Ungleiche Beteiligung ist nicht unbedingt unfair, weil "manche Nutzer gleicher sind als andere", um die Farm der Tiere fälschlich zu zitieren. Wenn Kiebitze etwas beitragen wollen, ist ihnen das normalerweise erlaubt.
Das Problem ist: Das Gesamtsystem ist nicht repräsentativ für die Web-Nutzer. Bei jeder beliebigen Website mit Nutzerbeteiligung hört man fast ständig von denselben 1% der Nutzer, die sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den 90% unterscheiden, von denen man nie etwas hört. Das kann aus verschiedenen Gründen zu Schwierigkeiten führen:
- Kunden-Feedback. Wenn Ihr Unternehmen Web-Beiträge liest, um Kunden-Feedback zu seinen Produkten und Leistungen zu bekommen, ist Ihre Stichprobe nicht repräsentativ.
- Reviews. Ähnlich sieht es aus, wenn Sie als Kunde herausfinden wollen, welches Restaurant Sie frequentieren oder welches Buch Sie kaufen sollten: Online-Besprechungen repräsentieren nur eine winzige Minderheit der Leute, die Erfahrungen mit diesen Produkten und Leistungen haben.
- Politik. Wenn eine Partei einen Kandidaten nominiert, der von "Netroots" (etwa: der Online-Basis) unterstützt wird, wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit verlieren, weil die Positionen solcher Kandidaten für Durchschnittswähler zu extrem sind. Beiträge in politischen Blogs kommen von weniger als 0,1% der Wähler, meistens von strammen Linken (bei den Demokraten) oder von strammen Rechten (bei den Republikanern).
- Suchergebnisse. Die Ergebnisseiten von Suchmaschinen sind hauptsächlich danach sortiert, wie viele andere Websites Links auf das jeweilige Ziel enthalten. Wenn 0,1% der Nutzer die meisten dieser Links setzen, riskieren wir, dass sich die Suchrelevanz noch weiter von dem entfernt, was für die übrigen 99,9% der Nutzer von Nutzen ist. Die Suchmaschinen müssen sich mehr an Verhaltensdaten orientieren, deren Stichproben besser die Gesamtheit der Nutzer repräsentieren; das ist der Grund, weshalb sie dabei sind, Internet-Zugangsdienste aufzubauen.
Verhältnis zwischen Signal und Rauschen. Foren ertrinken in flammenden und qualitativ minderwertigen Beiträgen, was es schwierig macht, die Perlen zu entdecken. Viele Nutzer hören auf, die Kommentare zu lesen, weil sie keine Zeit haben, durch den Sumpf von Beiträgen von Leuten zu waten, die wenig zu sagen haben.
Wie man die ungleiche Beteiligung überwindet
Das geht nicht.
Der erste Schritt zum Umgang mit ungleicher Beteiligung ist es anzuerkennen, dass sie uns immer begleiten wird. Sie hat in jeder Online-Community und jedem Dienst für viele Nutzer existiert, die jemals untersucht wurden.
Die einzige wirkliche Wahl, die Sie hier haben, ist eine Änderung des Winkels der Kurve. Geht es mehr in Richtung einer "gewöhnlichen" 90:9:1-Verteilung oder mehr in Richtung einer radikalen 99:1:0,1-Verteilung, wie sie in einigen sozialen Websites üblich ist? Können Sie eine ausgeglichenere Verteilung von, sagen wir, 80:16:4 hinbekommen? (Das heisst: Nur 80% Kiebitze, 16% tragen etwas bei und 4% das meiste.)
Auch wenn die Beteiligung immer etwas ungleich sein wird, gibt es Wege, sie besser auszugleichen. Dazu gehören Folgende:
- Das Beitragen einfacher machen. Je schlanker die Formalien sind, desto mehr Leute werden durch den Ring springen. Netflix zum Beispiel lässt die Nutzer Filme bewerten, indem man auf eine Sternenreihe klickt, was viel einfacher ist, als eine Besprechung in natürlicher Sprache zu schreiben.
- Beteiligung zum Nebeneffekt machen. Besser noch, man lässt die Nutzer sich mit dem Aufwand Null beteiligen, indem die Beteiligung als Nebeneffekt einer anderen Aktion anfällt, die sie erledigen. Die Amazon-Empfehlungen "Kunden, die sich diesen Artikel angesehen haben, haben sich auch folgende Produkte angesehen" sind ein Nebeneffekt des simplen Kaufvorgangs. Man muss nichts weiter tun als seine Buchpräferenzen ins System einzugeben. Will Hill hat für diesen Effekt den Begriff read wear (Lesespuren) geprägt: Die schlichte Tätigkeit des Lesens (oder Nutzens) von etwas "nutzt es ab" und hinterlässt auf diese Weise ihre Spuren - so wie bei einem Kochbuch, das sich automatisch bei dem Rezept aufschlägt, das man am häufigsten auswählt.
- Überarbeiten statt Verfassen. Lassen Sie die Nutzer Beiträge erstellen, indem sie existierende Vorlagen modifizieren, statt ein komplettes Werk aus dem Nichts heraus verfassen zu müssen. Eine Vorlage zu überarbeiten ist reizvoller und hat eine sanftere Lernkurve als der schreckliche Anblick einer leeren Seite. In Avatar-gestützten Systemen wie Second Life zum Beispiel modifizieren die meisten Nutzer lieber einen vorgegebenen Standard-Avatar als einen gänzlich neuen zu kreieren.
- Teilnehmer belohnen - aber nicht zu sehr. Wenn Sie Leute für ihre Beiträge belohnen, hilft das, Nutzer zu motivieren, die ein Leben ausserhalb des Internets führen, und verbreitert so Ihre Teilnehmerbasis. Geld ist zwar immer gut, aber stattdessen können Sie den Autoren auch eine Vorzugsbehandlung zukommen lassen (wie etwa Rabatte oder frühzeitige Information über neue Ware), oder auch bloss ihr Profil mit goldenen Sternen verzieren. Aber geben Sie den aktivsten Teilnehmern nicht zu viel, sonst ermuntern Sie sie dazu, das System noch stärker zu dominieren.
- Qualifizierte Autoren herausstellen. Wenn Sie alle Beiträge in gleicher Form anzeigen, gehen Leute, die nur dann etwas schreiben, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen haben, in der Materialflut unter, die von dem hyperaktiven Prozent erzeugt wird. Stellen Sie stattdessen gute Beiträge und Beiträge von Leuten, die ihren Wert bereits gezeigt haben, besonders heraus - letzteres etwa durch eine Reputationsrangfolge.
Das Design Ihrer Website beeinflusst ohne Zweifel die ungleiche Beteiligung in die eine oder in die andere Richtung. Sich das Problem bewusst zu machen ist der erste Schritt dazu, es anzupacken; Wege zu finden, die die Beteiligung verbreitern, wird umso wichtiger, desto mehr die sozialen Netzwerkfunktionen im Web weiter anwachsen.
Referenzen
Laurence Brothers, Jim Hollan, Jakob Nielsen, Scott Stornetta, Steve Abney, George Furnas, and Michael Littman (1992): "Supporting informal communication via ephemeral interest groups," Proceedings of CSCW 92, the ACM Conference on Computer-Supported Cooperative Work (Toronto, Ontario, November 1-4, 1992), pp. 84-90.
William C. Hill, James D. Hollan, Dave Wroblewski, and Tim McCandless (1992): "Edit wear and read wear," Proceedings of CHI'92, the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems (Monterey, CA, May 3-7, 1992), pp. 3-9.
Steve Whittaker, Loren Terveen, Will Hill, and Lynn Cherny (1998): "The dynamics of mass interaction," Proceedings of CSCW 98, the ACM Conference on Computer-Supported Cooperative Work (Seattle, WA, November 14-18, 1998), pp. 257-264.
© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.
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