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11.04.2005

Usability in der Medizin: Wie man Patienten mit schlechtem Design tötet

Eine Feldstudie förderte 22 Varianten zutage, wie automatisierte Krankenhaussysteme zu einer falschen Medikation von Patienten führen können. Die meisten dieser Fehler sind klassische Usability-Probleme, die seit Jahrzehnten bekannt sind.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 11.04.2005

 

Usability entscheidet häufig über Leben und Tod: In der Nutzeroberfläche eines Kampfflugzeugs beispielsweise kann eine Verzögerung von einer Sekunde beim Bedienen des Zielsuch- und Feuersystems das Überleben des Piloten im Luftkampf stark gefährden.

Das schlagendste Beispiel, wie schlechtes Design zum Tod führen kann, liefern aber Nutzeroberflächen im Auto: Jedes Jahr kostet es Tausende von Toten, wenn Fahrer von überkomplizierten Designs abgelenkt werden. Im Gegenzug kann gutes Design im Auto Menschenleben retten. Das Navigationssystem meines neuen Lexus LS 430 zum Beispiel weist leise quengelnd und weit im Voraus darauf hin, ob meine nächste Ausfahrt links oder rechts wegführt. Diese Funktion gibt einem reichlich Zeit, die Spur zu wechseln, statt dass man es erst im letzten Moment tun muss, wie das normalerweise der Fall ist, wenn der Strassenwegweiser in Sicht kommt. (Die Anzahl der Leute, die durch schlechtes Design von Verkehrsschildern ums Leben kommen, muss erschreckend sein.)

Medizinische Systeme sorgten ebenfalls bereits für eine ganze Reihe gut dokumentierter Todesdesigns wie z.B. jene Bestrahlungsgeräte, die wegen ihrer komplizierten und irreführenden Bedienungskonsolen sechs Patienten geröstet haben. Weniger bekannt ist, dass Usability-Probleme bei den altbekannten Büroautomatisierungssystemen im Gesundheitswesen Patienten ebenso viel Schaden zufügen können wie Behandlungsgeräte.

Eine Feldstudie im Krankenhaus

In einem Artikel in der jüngsten Ausgabe des Journal of the American Medical Association berichten Ross Koppel und Kollegen über ihre Feldstudie mit dem Medikamentenverordnungssystem eines Krankenhauses, das Ärzte verwenden, um die Dosierungen für Patienten festzulegen. Die Studie zeigt 22 verschiedene Möglichkeiten auf, wie Patienten wegen des Systems die falsche Medizin bekommen. Die meisten davon beruhen auf Usability-Problemen. Ich bespreche hier in aller Kürze die Fehler, die von allgemeinem Interesse sind.

Irreführende Vorgabewerte. Die Bildschirmseiten des Systems listen Dosierungen auf der Grundlage der in der Krankenhausapotheke vorrätigen Medikationseinheiten auf. Wenn Krankenhausmitarbeiter selten verwendete Medikationen verschreiben, verlassen sie sich oft darauf, dass die angezeigte Einheit der normalen Dosis entspricht - auch wenn die Zahlen in Wirklichkeit etwas anderes bedeuten. Wenn eine Medikation zum Beispiel gewöhnlich in 20 mg oder 30 mg-Dosen verschrieben wird, könnte die hauseigene Apotheke stattdessen bloss 10mg Pillen vorrätig halten. Damit kann sie alle benötigten Dosen anbieten, ohne dass sie zu viel von einer seltenen Medikation einlagert. In einem solchen Fall könnten die Nutzer des Systems versehentlich 10 mg verschreiben, obwohl 20 oder 30 richtiger gewesen wären. Die Lösung des Problems ist einfach: Jede Bildschirmseite sollte die normalen Verschreibungen als Richtwerte aufführen. Seit Jahren zeigen Usability-Studien in vielen Bereichen, dass die Nutzer zu der Annahme neigen, dass die vorgegebenen Werte oder angegebenen Beispielwerte auch für ihre Situation richtig seien.

Neue Eingaben werden nicht mit den vorigen verglichen. Wenn Ärzte die Medikamentendosierung in eines Patienten verändert haben, gaben sie oft die neue Dosis ein ohne die vorige Dosis zu löschen. In der Folge erhielten die Patienten die Summe aus alter und neuer Dosis. Dieser häufig vorkommende Bedienfehler entspricht demjenigen in Online-Banking-Systemen, wo man zweimal am Tag den gleichen Betrag an den gleichen Empfänger überweisen könnte. Viele Banken-Websites fangen solche Fehler automatisch ab, indem sie darum bitten, die Dopplung zu überprüfen, damit man nicht die gleiche Rechnung zweimal bezahlt. Im Allgemeinen sollte das System, sobald man etwas wiederholt eingibt, nachfragen, ob beide Operationen durchgeführt werden sollen oder ob die neue Eingabe die vorige aufheben soll.

Schlechte Lesbarkeit. Da die Namen der Patienten in einer kleinen, schlecht lesbaren Schrift angezeigt wurden, war es leicht möglich, im System den falschen Patienten auszuwählen. Das Problem wurde durch die Tatsache verschärft, dass die Namen alphabetisch aufgelistet wurden und nicht gruppiert nach Krankenhaus-Abteilungen; deshalb waren die Nutzer bei der Suche nach einem Patienten mit vielen ähnlich lautenden Namen konfrontiert. Zudem erschien der Name des Patienten in der individuellen Akte nicht auf jeder Bildschirmseite, wodurch die Wahrscheinlichkeit sank, dass die Ärzte den Fehler noch rechtzeitig entdeckten, bevor sie mit ihrer Interaktion einen kritischen Punkt überschritten.

Überlastung des Gedächtnisses. Stellenweise mussten die Nutzer bis zu zwanzig Bildschirmseiten durchblättern, um sämtliche Medikationen eines Patienten zu überblicken. Die Grenzen des menschlichen Kurzzeitgedächtnisses sind wohlbekannt und erlauben es nicht, über so viele Seiten hinweg alles zu behalten. Bei einer Befragung gaben 72% der Mitarbeiter an, dass sie sich bei Medikationen und Dosierungen oft unsicher fühlten, weil sie Mühe bekundeten, die gesamten Medikationen eines Patienten zu überschauen. Den Menschen fällt es notorisch schwer, exakte Informationen in Erinnerung zu behalten, und sich nicht zu sehr auf das Gedächtnis der Nutzer zu verlassen war lange Zeit eine der zehn wichtigsten heuristischen Usability-Regeln. Fakten sollten stets erneut angezeigt werden, wo und wann immer sie gebraucht werden, statt von den Nutzern zu verlangen, dass sie sich die Dinge von einer Bildschirmseite zur nächsten merken (ganz zu schweigen von zwanzig Bildschirmseiten auf der Strecke).

Datierungsfehler. Die Nutzeroberfläche erlaubte es dem Bediener, Medikationen auf "morgen" festzulegen. Wenn Ärzte noch spät auf den Beinen standen und solche Verordnungen nach Mitternacht eingaben, ging den Patienten eine Tagesmedikation verloren.

Überkomplizierte Arbeitsabläufe. Das System verlangte von den Nutzern oftmals, sich durch zahlreiche Bildschirmseiten zu bewegen, und das war nicht mit dem Arbeitsablauf im Krankenhaus zu vereinbaren. Als Konsequenz wurde das System nicht immer in der Weise genutzt, wie es beabsichtigt war. Krankenschwestern zum Beispiel legten einen Stapel Extraakten auf Papier an und gaben ihn erst am Ende ihrer Schicht ein. Dadurch stieg die Wahrscheinlichkeit von Fehlern, und das System zeigte auch keine Echtzeitinformationen mehr an über die Medikation, die jeder Patient bekommen hatte. Im Allgemeinen gilt: Sobald Sie sehen, dass Nutzer Notizzettel und andere Arbeitsmittel aus Papier nutzen, wissen Sie, dass Ihre Nutzeroberfläche Fehler hat.

Methodologische Schwächen

In Ergänzung zu ihren Feldbeobachtungen des realen Nutzerverhaltens befragten die Forscher das Krankenhauspersonal über die Häufigkeit von verschiedenen Fehlern in den letzten drei Monaten. Leider verlässt sich der Artikel zu stark auf Selbsteinschätzungen, wenn er die Auswirkungen der Usability-Probleme beurteilt. Es ist seit langem bekannt, dass die Leute sich nicht leicht daran erinnern, was sie mit einem Computer gemacht haben. Aussagekräftige Daten entstehen einzig daraus, was die Leute tun - und nicht, was sie berichten, getan zu haben.

Wenn es durch schlechtes Design zu Bedienungsfehlern kommt, gibt es ein weiteres Problem: Wenn die Oberfläche keine adäquaten Rückmeldungen gibt, kann es passieren, dass die Nutzer gar nicht merken, dass sie einen Fehler begangen haben. Zumal gerade bei Medikationsfehlern das Krankenhauspersonal dazu neigen könnte, das tatsächliche Ausmass zu verschleiern, in dem Patienten die falsche Medikation bekommen - selbst dann, wenn die Befragung Anonymität garantiert.

Ich hätte es auf jeden Fall vorgezogen, die Abschätzung von Fehlerraten auf tatsächliche Beobachtungen zu stützen, und nicht auf das fehlbare menschliche Gedächtnis und möglicherweise verzerrte Antworten in den Befragungen. Dennoch deutet die Befragung darauf hin, dass viele der aufgeführten Fehler zumindest einmal in der Woche aufgetreten sind. Wenn überhaupt, dann liegt die wirkliche Fehlerrate höher als die Selbsteinschätzungen in der Umfrage.

Es ist schön zu beobachten, wie Usability aus ihren Ursprüngen herauswächst und in einer Abteilung für klinische Epidemiologie erforscht wird. Weniger grossartig ist es, methodologische Schwächen zu entdecken, die daher rühren, dass man Usability studiert, ohne die letzten 25 Jahre Usability-Forschung zu berücksichtigen. Von den 60 Referenzen des Papiers stammen 92% aus medizinischen Zeitschriften und dergleichen. Nur 5 der 60 Referenzen stammen aus der Literatur über menschliche Faktoren. Und obwohl es in der Studie um Software-Design geht, stammt keine dieser fünf Referenzen aus führenden Zeitschriften, Konferenzen, Büchern oder Vordenkern der Mensch-Computer-Interaktion.

Krankenhaussysteme sind nur ein Beispiel dafür, wie Usability-Probleme in fachspezifischen Systemen wuchern können. Solche Systeme sind nur selten in einer Weise der Öffentlichkeit und deren Urteil ausgesetzt wie Websites. Die Anbieter denken sich meist, wenn ihr Personal aus ein paar Fachleuten besteht, dann wird die Software im Feld schon funktionieren. Jedoch ist die Weise, wie Leute in der Theorie arbeiten, nie identisch mit der Praxis. Je stärker ein System spezialisiert ist, desto mehr braucht man zur Sicherstellung des Erfolgs Nutzertests. Ganz egal, ob es nun um Ärzte oder Feuerwehrleute geht: wenn man die wirklichen Nutzer nicht beobachtet und die Designs mit ihnen testet, handelt man sich garantiert einen Schwall von Usability-Problemen ein.

Jetzt muss man die Abhandlung bloss noch finden - eine weitere Frage der Usability

Ich bin kein regelmässiger Leser des Journal of the American Medical Association; entdeckt habe ich die Studie über einen Artikel in der New York Times. Leider entpuppte es sich als wahre Nervenprobe, vom Artikel zu der Abhandlung zu gelangen, auf die sie sich bezog.

Über die miserable Usability von Universitätswebsites kann ich mich nur immer wieder aufs Neue wundern. Das Web wurde einst erfunden, um akademische Abhandlungen zu verbreiten, aber es ist fast unmöglich, auf akademischen Websites bestimmte Forschungsergebnisse zu finden.

In diesem Fall kannte ich den Titel der Abhandlung nicht, da er nicht in der Zeitung stand. Allerdings hatte ich den Namen des führenden Autors; als ich danach suchte, landete ich prompt auf der Startseite einer Fakultät der University of Pennsylvania. Leider war diese Seite nutzlos wie übrigens die meisten Startseiten von Fakultätsmitgliedern. Der neueste Eintrag in der Liste "ausgewählter Publikationen" stammte von 2002. Das Hauptinteressensgebiet des Professors war mit farbigem Text ausgezeichnet, erweckte also eine starke Erwartung, anklickbar zu sein. Doch war der Text nicht verlinkt. Auch die Seite zur Biographie des Professors enthielt keine weiteren Informationen über seine Forschung. Sie verlinkte auf seinen kompletten Lebenslauf (als PDF, oh je), aber der war seit März 2003 nicht mehr aktualisiert worden und enthielt ebenfalls keine Links.

Die Suche nach dem Autor lieferte also keinerlei Informationen über die Forschungsergebnisse. Wie stand es mit der akademischen Einrichtung, die für das Projekt verantwortlich war? Die Zeitung lieferte praktischerweise den vollen Namen der Abteilung, wie gemacht für eine schnelle Suche. Das erste Suchergebnis war das richtige, allerdings enthielt der Seitentitel - CCEB - so gut wie keine Informationsfährte. Wie weiteres Suchen ergab, steht CCEB für "Center for Clinical Epidemiology and Biostatistics" (Zentrum für klinische Epidemiologie und Biostatistik). Hier haben Organisationen eine ganze Zeile zur Verfügung, um ihre Namen auszuschreiben - man sollte denken, dass sie dies ausnutzen würden, um den Besuchern von ausserhalb weiterzuhelfen.

Doch das war noch lange nicht das schlimmste Problem. Es ist ein Trauerspiel, dass die Universität fast keine Ahnung hat, wie man das Web für die Öffentlichkeitsarbeit nutzt. Am Tag, an dem das CCEB auf der Titelseite der New York Times erwähnt wurde, war die zuletzt eingetragene Nachricht der Abteilung ganze zehn Monate alt.

Während die University of Pennsylvania miserabel abschnitt, glänzte die American Medical Association mit einer wunderbaren Leistung: Eine Suche nach dem Journal of the American Medical Association lieferte auf dem ersten Treffer die Website der Zeitschrift. Die JAMA-Startseite bot einen direkten Link auf den gesuchten Artikel an - in Übereinstimmung mit der Startseiten-Richtlinie, Inhalte erster Priorität hervorzuheben.

In der Hauptnavigationsleiste der JAMA gab es zudem einen prominenten Link zu früheren Ausgaben (leider in Farben mit schwachem Kontrast und in GROSSBUCHSTABEN geschrieben). Dieser Link führte zu einem Archiv, das auch das aktuelle Thema enthielt. Das ist ganz hilfreich für Nutzer - wie mich -, die nicht merken, dass ihr gesuchtes Thema zurzeit das aktuelle Thema ist.

Ansonsten hatte die JAMA-Website auch viele Usability-Probleme, wie z.B., dass sie undifferenzierte "Mehr"-Links anzeigte und damit zugleich die Überfliegbarkeit (Scanbarkeit) der Startseite für normalsichtige Nutzer verletzte, die Barrierefreiheit für blinde Nutzer verringerte und Suchmaschinen daran hinderte, die Zielseiten mit sinnvollen Schlüsselwörtern aus dem Ausgangstext zu assoziieren.

Doch in der Hauptsache hat die JAMA ihre Arbeit im Web getan. Sobald ich meine Strategie geändert hatte und statt nach dem Autor oder der akademischen Einrichtung nach dem Herausgeber der Abhandlung suchte, brauchte ich nur noch eine Minute, um von der allgemeinen Suchmaschine zum Volltext der Abhandlung auf der JAMA-Site zu gelangen.

Die Tatsache, dass akademische Websites so miserabel zu nutzen sind, hat sicherlich mit dem Isolations- und Verengungseffekt heutiger Forschungspraxis zu tun. Wenn Aussenseiter leichter mit den Ergebnissen anderer Disziplinen in Berührung kämen - wo sich die Wissenschaftler nicht persönlich kennen -, könnten wir mehr gegenseitige Befruchtung und ein Wachstum unserer gemeinsamen Wissensbasis erleben. Eigentlich war das Gründungsmotiv für das Internet, ein einheitliches weltweites Hypertext-System zu schaffen.

Referenz

Koppel, R. u.a. (2005), Role of Computerized Physician Order Entry Systems in Facilitating Medication Errors, in: Journal of the American Medical Association Vol. 293 Nr. 10 v. 9. März, S. 1197-1203.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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