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14.03.2004

Warum Konsumartikel eine minderwertige Nutzererfahrung ermöglichen

Materielle Produkte - von der Unterhaltungselektronik bis hin zu Autos - sind unnötig kompliziert, weil sie von isolierten Unternehmen entwickelt werden, die nach wie vor den wachsenden Trend zur Usability ignorieren.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 15.03.2004

 

Volkswagen hat eine 73.365-$-Limousine namens Phaeton V-8A auf den Markt gebracht. Der Testfahrer der New York Times machte unter anderem folgende Anmerkungen zur Usability des Autos:

  • "Man wird zwar nicht ganz so stark in den Wahnsinn getrieben wie beim iDrive von BMW", (ein schwaches Lob, in der Tat), aber die Bedienungsinstrumente des Autos "kann man kaum nutzerfreundlich nennen."

  • "Ich habe Menü um Menü durchgeblättert", um herauszufinden, wo bestimmte Befehle versteckt waren.

  • "Ich habe den Hilfe-Knopf ausprobiert, aber es war nicht hilfreich."

  • Das Navigationssystem ist "wahrscheinlich das schlechteste, das ich je benutzt habe", "extrem schwer zu programmieren" und "zum grössten Teil nichtssagend".

  • Um schliesslich der Kränkung eine Beleidigung hinzuzufügen, funktionierten auch noch die Becherhalter nicht. Die Wasserflasche des Testfahrers ist während der ersten Fahrt "ein halbes Dutzend Mal auf den Boden gefallen". (Wenigstens das ist keine Besonderheit von VW; bei meinem Mercedes E420 hatte ich ähnliche Probleme. Die deutschen Ingenieure haben es nicht mit dem Trinken beim Fahren, auch dann nicht, wenn man Wasser trinkt.)

Diese traurige Geschichte illustriert, wie sich Usability etabliert hat und die Besprechung von Hochpreis-Konsumgütern in einer führenden Zeitung prägen kann. Will sagen, wenn ein neues Produkt, bei dessen Design man vermutlich keine Kosten und Mühen gescheut hat, mit einer Usability ausgeliefert wird, die offensichtlich weit unter Niveau bleibt, dann bekommt es hauptsächlich schlechte Presse.

Die BMW-Maschine zur Umwandlung von Loyalität in Enttäuschung

Wäre dieser Volkswagen nur der einzige Hochpreis-Übeltäter! Ich kann persönlich versichern, dass BMW ebenfalls eine minderwertige Usability hat; meine Frau hatte das Pech, vor zwei Jahren einen 745i zu erstehen. Zum Glück ist es nur ein dreijähriges Leasing, und so zählen wir jetzt die Tage (347 sind es noch), bis wir den Beemer ohne finanziellen Verlust wieder loswerden können. Wir werden wahrscheinlich nie wieder einen BMW kaufen, obwohl meine Frau früher eine der loyalsten Kundinnen des Unternehmens war. Nachdem sie den 745i täglich fahren musste, ist ihr die Marke für immer verleidet. Kein Werbeaufwand kann einen so starken Eindruck hinterlassen wie die langwierige Erfahrung mit einem schäbigen Produkt.

Hier ein paar Beispiele für das wirre Interaktionsdesign des BMW 745i:

  • Die Reaktionszeiten sind unglaublich lang. Jedes Mal, wenn man etwas auswählt, muss man mehrere Sekunden warten, bis die nächste Bildschirmseite erscheint. Dass man sich über die Ignoranz deutscher Ingenieure für die Bedürfnisse der Konsumenten lustig macht, ist normal, aber kein noch so hart gesottener Ingenieur würde bei einem Spitzenprodukt einen langsamen Computer akzeptieren. Die Hardware verfehlt den Geek 101. Lange Reaktionszeiten bedeuten, dass man der Handhabung der Nutzeroberfläche mehr Aufmerksamkeit widmen muss - gefährlich beim Gebrauch im Auto.

  • Ungeschickte Abläufe. Wenn man zum Beispiel ein Ziel für den Routenplaner eingibt, gelangt man (langsam) auf eine zusätzliche Seite, wo man den Zeiger auf den Befehl richten muss, dass die Orientierungshilfe tatsächlich starten soll. Ich wette, dass die grosse Mehrheit der Leute, die ein Ziel eingeben, auch dort hinfahren will. Das System sollte beim Start Wegbeschreibungen anbieten, und sollte für die wenigen Nutzer, die ein Ziel eingeben, wo sie nicht hinfahren wollen, einen Zusatzbefehl vorhalten, der die Wegbeschreibungen abschaltet.

  • Missverständliche Abbildung zwischen Eingabevorrichtung und Bildschirmanzeige. Auf der Seite, wo man Punkte von der Zielliste streichen kann, muss man den Knopf nach links drehen, um den Cursor nach rechts zu bewegen.

  • Unklare Abkürzungen. Obwohl die Designer einen recht grossen Bildschirm zur Verfügung haben, haben sie ihn mit Befehlen wie "DSC/DTC", "BC", "Avoid sect.", "WB" und "Recirc. air MFL" gespickt. Was sie damit meinen, kann man nur vermuten. Besser schreibt man die Befehle aus, wenn man genug Platz dafür hat (zum Beispiel "Weather" statt "WB").

  • Mangel an Situationskenntnis. Jedes Mal, wenn man das GPS nutzen will, muss man mühsam, mit vielen Drehungen und Wendungen an der Eingabevorrichtung, seinen Zielort ausschreiben. Das Systemdesign macht es gleich einfach (und demzufolge auch gleich schwierig), zu jeder beliebigen amerikanischen Stadt zu kommen. Wissen Sie, wie viele amerikanische Städte mit "San" anfangen? Aber von unserem Wohnort aus wollen wir fast ausschliesslich nach San Jose oder San Francisco, und normalerweise gibt es beim GPS Kürzel für die lokalen Zielorte. Wie oft fahren Kalifornier 1755 Meilen zum Mittagessen nach San Marcos, Texas?

  • Verschiedene Funktion, gleiches Aussehen. Das Auto hat individuelle Einstellungen für den Fahrersitz, den Spiegel usw. Diese Einstellungen sind an die verschiedenen Autoschlüssel gebunden, damit sich das Auto an den jeweiligen Fahrer anpassen kann, wenn er seinen Schlüssel ins Zündschloss steckt. Grosses Beispiel für eine befehlsfreie Nutzeroberfläche. Das Auto hat zwei Schlüssel, perfekt für einen Zwei-Personen-Haushalt. Leider sehen die Schlüssel genau gleich aus. Es wäre so einfach gewesen, die Schlüssel mit verschiedenen Farben oder Symbolen zu kennzeichnen, damit die Fahrer den Schlüssel mit ihren individuellen Einstellungen erkennen können. Aber nein. Wenn die beiden Fahrer ihre Schlüssel auf dem gleichen Tisch ablegen, sind sie angeschmiert; die Wahrscheinlichkeit, dass sie den falschen Schlüssel erwischen, beträgt 50%.

Unterhaltungselektronik, die nicht für den Hausgebrauch gemacht ist

Das folgende Bild zeigt die Fernbedienungen für zwei gewöhnliche Produkte der Unterhaltungselektronik, mit denen man sich zu Hause Filme ansehen kann. Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen Film, und das Telefon klingelt. Wie stellen Sie das Abspielen auf Pause?

2 Fernbedienungen

Die Fernbedienungen des digitalen Videorecorders TiVo DVR (links) und eines Pioneer DVD-Players (rechts)

Auf der TiVo-Fernbedienung (links) ist der Pausenknopf klar sichtbar. Er ist auch leicht zu drücken, da er gross ist und einen vernünftigen Abstand zu den anderen Knöpfen hat. Auf der Pioneer-Fernbedienung (rechts) ist es schwierig, den Pausenknopf zu lokalisieren; man muss genau hinsehen. Hat man ihn gefunden, ist er schwer zu drücken, da er klein ist und dicht umlagert von ähnlichen Knöpfen.

Vielleicht denken Sie, ich sei unfair zu den Designern der Pioneer-Fernbedienung; schliesslich ist die Qualität der Bilder, die ich hier zeige, durch Komprimieren reduziert worden, wodurch die Etiketten der Knöpfe etwas verschwommen sind. Ihre jetzige Sicht auf die beiden Fernbedienungen ist allerdings weitaus besser als die vieler Nutzer.

Die Leute nutzen diese Geräte, wenn sie sich zu Hause Filme oder Fernsehshows ansehen. Unter dieser Voraussetzung dürften zwei Schlüsselelemente der Nutzersituation sein:

  • Man trägt eine Brille für Weitsicht und keine Lesebrille.

  • schlechte Lichtverhältnisse

Natürlich kennt ein junger Designer, dessen Augenlicht sich noch nicht verschlechtert hat, das erste Problem nicht. Und keiner, der sich Design-Optionen in einem hell erleuchteten Besprechungsraum ansieht, hat das zweite Problem. Zu guter Letzt sind Professionelle, die Design-Vorschläge begutachten, vermutlich nüchtern, während viele ihrer Kunden ein grösseres Loch in ihren Kasten Bier reissen werden, was sowohl ihren Blick als auch ihren Verstand trübt. Wenn Ihre Kundenbasis dazu neigt, sich anzufeuchten, müssen Sie die Produkte entsprechend gestalten.

Leider muss man sagen, dass die meisten Fernbedienungen wie diejenige rechts auf dem Foto oben gestaltet sind.

Warum so schlecht?

Es gibt eine Vielzahl an Beispielen für schlecht gestaltete Konsumprodukte. Es gibt zwar ein paar gute darunter, aber die meisten haben eine schlechte bis grausame Usability, aus zwei Gründen: Mangel an Ansporn und Mangel an Usability-Kultur.

In der Vergangenheit hatten die Hersteller wenig Anreiz, die Usability in den Vordergrund zu rücken. Bei materiellen Produkten haben die Kunden keine Nutzerpraxis, bevor sie das Gerät bezahlt haben. (Im Gegensatz dazu sammeln Website-Kunden ihre Nutzerpraxis vorher: Wenn eine Site zu schwierig ist, kaufen sie bei dem Unternehmen nichts ein, da sie lange vor Erreichen des "Kaufen"-Knopfes woanders hingegangen sind.)

Gleichwohl wächst der Usability-Ansporn auch bei materiellen Produkten an, wie die oben zitierte Besprechung in der New York Times beispielhaft zeigt. Auch Konsumentenbesprechungen geben heutzutage der Produkt-Usability den Rang als explizites Besprechungskriterium.

Die Geburt einer Usability-Kultur

TiVo ist das Beispiel einer Firma für Unterhaltungselektronik, die schon im Frühstadium der Produktentwicklung Usability-Methoden integriert, unter Einsatz von Nutzertests, Low-Fidelity-Prototypen und Attrappen.

Warum macht TiVo das, während andere Unterhaltungselektronik-Verkäufer es bleiben lassen? Ich vermute, der Usability-Vorsprung von TiVo kommt daher, dass die Firma im Silicon Valley angesiedelt ist. Es ist zwar möglich, dass TiVo etwas Usability aufgeschnappt hat, bloss weil meine Gedankenwellen ausstrahlen, wenn ich einmal in der Woche auf dem Weg zu meinem bevorzugten indischen Restaurant an der Firmenzentrale vorbeikomme, aber die wahrscheinlichere Erklärung ist wohl die, dass das Silicon Valley in den letzten fünf Jahren von den Samen einer Usability-Kultur durchdrungen wurde.

TiVo ist ein junges Unternehmen. Als sie angefangen haben, haben sie Leute eingestellt, die zuvor in anderen Silicon-Valley-Unternehmen gearbeitet hatten, von denen einige Usability-Labore haben. Tatsache ist, wie ich weiss, dass einer der ersten Nutzeroberflächendesigner von TiVo bei früheren Projekten die Vorzüge von Nutzertests gesehen hat.

Ja, die Computer-Industrie hat eine schreckliche Usability. Unternehmenssoftware ist unmöglich zu installieren und unhandlich zu bedienen. PC-Software ist für die meisten Nutzer zu kompliziert. Aber die meisten dieser Probleme sind Erbkrankheiten: Die Interaktionsdesigner mühen sich ab, nachträglich passable Nutzeroberflächen auf miserable Software aufzusetzen, Software, die Jahre vor der Einsetzung von Usability-Gruppen konstruiert worden ist.

Bis heute bringt es Microsoft Office nicht fertig, eine komplett integrierte Nutzerpraxis anzubieten, und das, obwohl Microsoft seit 1988 seine Anwendungen als Komplettlösung im Bündel verkauft. Word stammt von 1983, Excel von 1985 und PowerPoint von 1987 (ursprünglich als unabhängiges Produkt von Forethought). Nach sechzehn Jahren harter Arbeit zeigt sich die Produktgeschichte immer noch in den Nutzeroberflächen, obwohl es bei jedem Release besser wird.

Heute brauchen Unternehmen, die neue Computerprodukte oder neue Internetdienste entwickeln, eine Nutzerpraxisstrategie, genau wie sie eine Exportstrategie brauchen. Usability ist einfach einer der Punkte, für den zu sorgen man von den Verantwortlichen erwartet. Das heisst nicht, dass sie es richtig machen oder bei jedem Schritt die korrekten Methoden anwenden. Aber es heisst, dass sie die Usability nicht ignorieren können.

Dazu kommt, dass - da viele bestehende Silicon-Valley-Unternehmen Usability einsetzen - Unternehmen ohne Usability-Tradition oft Leute einstellen, die bei früheren Jobs Erfahrungen mit Nutzertests gesammelt haben und das bei den neuen Produkten ebenfalls tun wollen.

Unternehmen für Unterhaltungselektronik dagegen haben eine Geschichte der Ignoranz für Nutzerbedürfnisse hinter sich. Ein paar Mobiltelefonunternehmen machen etwas Usability, aber in den meisten Branchen hat man noch nie etwas von Usability gehört. Diese Unternehmen führen ein engstirniges Inselleben, und sie werden von Lebenslänglichen bevölkert: Automobilingenieure sprechen nur mit anderen aus der Autoindustrie; Leute, die Kabelempfänger entwerfen, sprechen nur mit anderen in der Fernseh-Industrie. Sie sprechen niemals mit Interaktionsdesignern, die sich mit bildschirmgestützten Nutzeroberflächen auskennen. Und das sieht man.

Da immer mehr die Produkte computerisiert werden, wird die eine oder andere Querbefruchtung nicht ausbleiben, und selbst stagnierende Industrien werden Leute einstellen, denen Usability geläufig ist. Bis das passiert, werden die Rezensenten weiterhin schwierige Designs blossstellen, und wir alle bleiben aufgefordert, uns damit zu begnügen, die am wenigsten mittelmässigen Produkte zu kaufen.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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