Zehn Jahre Alertbox
300'000 Worte in Form von Usability-Essays haben etwas bewirkt: Online-Nutzeroberflächen sind deutlich einfacher zu bedienen als sie es noch 1995 waren. Manche Prophezeiungen und Empfehlungen haben sich erfüllt, doch man kann noch lange nicht behaupten, dass sich die in der Alertbox ausgedrückten Anschauungen und Ansichten vollständig materialisiert haben.
by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 01.06.2005
Es kommt mir so vor, als hätte ich den 5-Jahresrückblick auf die Alertbox gerade erst gestern verfasst. Doch das ist nun auch schon wieder 5 Jahre her. Seit meiner ersten Kolumne vom Juni 1995 habe ich 247 Kolumnen geschrieben - mit insgesamt fast 300'000 Worten . Das ist schon eine Menge Schreibarbeit und natürlich auch Inhalt, den man auf dem Internet verschenkt. War es das alles wert?
Mein meistgelesener Artikel, "Die 10 häufigsten Fehler im Webdesign", hatte schon vor längerem seinen zweimillionsten Leser. Die durchschnittliche Alertbox bringt es auf 300'000 Seitenabrufe; sämtliche Kolumnen zusammen brachten es auf bisher rund 50 Mio. Seitenabrufe. Selbst wenn ich keine weiteren Artikel mehr schreiben würde, wäre die Alertbox ein Projekt mit 100 Mio. Seitenabrufen - denn in den nächsten 10 Jahren wird sich die Leserschaft der archivierten Artikel nochmals verdoppeln.
Ja, es war den Aufwand wert!
Als ich 1994 meine ersten Anwendertests auf Websiten und Intranets durchführte, war ich vermutlich die einzige Person auf der ganzen Welt, die sich für solch esoterische Dinge interessierte. Die Web-Leute interessierten sich nicht für Usability, und Usability-Leuten war das Web egal. Nun, nach so vielen Jahren, in denen unermüdlich Resultate der Nutzerforschung publik wurden, hat sich das Blatt gewendet. Tausende arbeiten mittlerweile im Bereich der Online-Usability. Die Nielsen Norman Group alleine hat 11'208 Leute weitergebildet. Bedenkt man, dass auch noch an zahlreichen anderen Orten Usability unterrichtet wird, so kommt man weltweit auf noch eine viel höhere Zahl.
Meilensteine
Ich habe in die 10 meist gemachten Webdesign-Fehler des Jahres 2002 Karikaturen eingefügt. Es war schon eine Herausforderung (aber auch unterhaltsam) die häufig sehr abstrakten Usability-Prinzipien zu illustrieren. Sogar für die konkreten visuellen Prinzipien war es nicht leicht, eine passende witzige Zeichnung zu finden, z.B. für die lesbare Illustration des Problems von zu "kleiner Schriftgrösse".
Meine Kolumne dreht sich nicht nur um das durchschnittliche Nutzerverhalten, sondern umfasst auch andere Bereiche. So schliesst sie auch Studien über Kinder, Teenager, Senioren, behinderte Anwender und leseschwache Nutzer mit ein. Jede Gruppe erfordert gesonderte Beachtung; denn mit der zunehmenden Entwicklung und Verbreitung des Internets müssen Designer erkennen, dass die Mehrheit der Nutzer nicht so ist, wie sie selber.
Ich griff in meinen Kolumnen auch ein bisschen über Websites und Intranets hinaus und schrieb über die Usability von E-Mails, inkl. Newsletter und Bestätigungsmails. Zudem deckte ich viele Themen aus dem Leben ausserhalb der Online-Welt ab, von Unterhaltungselektronik bis zu Harry Potter.
Selbstverständlich blieb ich auch vielen Themen treu, die ich bereits in den ersten 5 Jahren behandelte, darunter der Betonung auf Einfachheit, Usability Methoden und meiner Forderung, dem Anwender die Kontrolle zu überlassen.
Prophezeiung des "Long Tail"
1997 verfasste ich meine Kolumne "Steigen die Einnahmen von Websites kontinuierlich?", in der ich den relativen Wert von kleinen und grossen Websites erörterte. Ich prophezeite damals, dass kleine Webpräsenzen 75% des Gesamtvolumens auf dem Web generieren würden, weil sie sich gezielter ausrichten können als grosse Sites.
Zugegebenermassen trafen meine Vorhersagen nicht immer zu 100% ein: Ich nahm an, es würde bis zum heutigen Tag schon 100 Mio. Websites geben, und derzeit sind es "erst" 64 Mio. Aber mein Hauptargument wurde inzwischen schon zur Binsenwahrheit: das Phänomen des "Long Tail" bewirkt nämlich, dass die Gesamtzahl aller Verkäufe von Nicht-Bestsellern sich insgesamt deutlich höher aufsummieren als das sehr augenfällige Geschäft mit den paar wenigen Top Hits.
Anmerkung des Übersetzers: In der Statistik spricht man im Zusammenhang mit bestimmten Häufigkeitsverteilungen schon länger über das "Long Tail" Phänomen. Populär wurde der Begriff aber durch einen vielzitierten Artikel von Chris Anderson im Magazin WIRED.
Aktuelle Diskussionen des "Long Tail" unterschätzen die Nicht-Hits, indem sie annehmen, dass jeder Punkt auf der Kurve denselben Wert hat. Aber auf dem Web bedeutet Kleinheit, dass man seinen Inhalt besser auf das Zielpublikum abstimmen kann und so einen viel höheren Wert pro Einheit erzeugt als allgemeine gehaltene Angebote.
In einer späteren Alertbox aus dem Jahr 2003 ("Vielfalt stärkt fachspezifische Websites") wiederholte ich diesen zweiten Punkt und betonte den Wert von Nischen im Onlinegeschäft.
Ich kann froh sein, dass die Hälfte meiner Behauptung auf breite Akzeptanz stiess und heute die treibende Kraft für umfangreiche Investitionen in virtuelle Container darstellt. Aber es gibt immer noch zu viel Aufruhr um Grosse, die es allen recht machen, und zu wenig Interesse an den eigentlichen Nischen.
Wie viel Fortschritt gab es in den 10 Jahren?
Überfliegt man auf seinem Monitor die letzten 10 Jahre so gibt es zweifellos Fortschritte im Bereich Web-Usability:
- eklatanter Design-Blödsinn wie Splash-Screens sind beinahe schon Geschichte.
- Usability-Messwerte werden immer besser, und zwar sowohl die Erfolgsraten als auch die Befolgung von Richtlinien
- Viele Firmen beschäftigen heute schon extra Usability Spezialisten. Noch häufiger nehmen sich Firmen vor, die Usability ihrer Websites und Intranets zu verbessern.
- Internetverantwortliche sind immer häufiger bereit, Designkonventionen zu befolgen statt sie zu verspotten und dadurch ihre Nutzer zu verärgern.
10 Jahre sind nicht viel in Anbetracht der Grösse des Themas. Doch es gab bereits deutliche Bewegungen in die Richtung, für die ich mich einsetzte.
Natürlich gab es auch Enttäuschungen. Die Erfolgsraten erhöhen sich jährlich um 4% und liegen für Firmenwebsites bei derzeit 66%. So gesehen bleiben noch 8 abzuwarten, bis wir wahrhaft nutzbare Websites bekommen. Ausserdem ist die Qualität von Websites einfach entsetzlich, wenn man mit den Standards von Six Sigma oder irgendwelchen anderen Qualitätsstandards in der Industrie vergleicht.
Wenn ich falsch lag, dann meist, weil ich zu enthusiastisch in bezug auf das Potential der neuen Technologie war. Recht hatte ich meist dann, wenn ich mich konservativ zeigte. Einer meiner grösseren Fehler war, dass ich bei den mobilen Angeboten einen raschen Fortschritt erwartete. WAP war ein verdienter Misserfolg, aber ich erwartete, dass die nächste Generation besser sein und gleich von Anfang an breitere Anwendung finden würde.
Letztlich gibt es einen Grund, weshalb die alten "zehn meistgemachten Fehler" immer noch populär sind: Trotz deutlicher Belege begehen Webdesigner diese Fehler immer noch mit erstaunlicher Häufigkeit. Das ist traurig, doch zumindest treten diese Fehler nicht mehr so verbreitet auf. Wir machen wirklich Fortschritte. Und zugleich hab ich noch ausreichend Futter für Hunderte weiterer Kolumnen.
© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.
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