Alle Akteure bei Nutzertests einbeziehen

Ausser den Usability-Spezialisten sollten auch alle übrigen Mitglieder der Design-Teams Usability-Tests beobachten. Es empfiehlt sich zudem, Vorstandsmitglieder einzuladen. Auch wenn dabei zuweilen verzerrte Schlussfolgerungen entstehen, überwiegt der Nutzen durch bessere Beteiligung und steigende Empathie bei weitem.

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) – 24.05.2010

Seit Jahrzehnten habe ich immer wieder empfohlen, alle Mitglieder des Design-Teams und der verschiedenen Management-Ebenen weiter oberhalb zur Teilnahme an Usability-Sitzungen einzuladen. In der Tat ist die Möglichkeit, etliche Beobachter einzuladen, ohne die Testteilnehmer einzuschüchtern, einer der wichtigsten Gründe, in ein Usability-Labor zu investieren, sobald ein Unternehmen auf der Usability-Reifeskala voranschreitet. (Wenn Sie aber nur wenige Beobachter haben, kann jedes Zimmer, bei dem Sie die Tür schliessen können, Ihnen als Testraum dienen.)

In unserem Kurs zum Thema, wie man eigene Nutzertests durchführt, verbringen wir eine ganze Menge Zeit damit zu diskutieren, wie man mit diesen Beobachtern umgeht, die in der Regel nicht viel über Usability wissen. Das ist in der Tat eine wichtige Frage. Auf einer meiner jüngsten Konferenzen allerdings hat ein Zuhörer eine noch wichtigere Frage gestellt: Warum sollte man überhaupt solche «Outsider» zu einem Test einladen? Wäre es nicht effizienter, den Test einfach im kleinen Kreis durchzuführen, ohne sich Gedanken um Entwickler, Vorstände usw. machen zu müssen?

In vielen Fällen wäre es wahrscheinlich wirklich effizienter, die gesamten Usability-Aktivitäten einer einzelnen verantwortlichen Person zu überlassen und alle anderen in ihren Büros bleiben zu lassen.

Die wichtigste Ausnahme ist der häufig vorkommende Fall, wenn man fehlerbehaftete Software-Prototypen testet. In solchen Fällen ist es nützlich, wenn ein paar Entwickler anwesend sind, damit man mit den unvermeidlichen Abstürzen klarkommt. (Wie Sie wissen, ist es wichtig, Software im frühen Stadium zu testen, je primitiver, desto besser, weil frühzeitige Usability-Rückmeldungen das Endprodukt viel stärker beeinflussen als Ergebnisse, die zu spät kommen, um noch implementiert werden zu können.)

Achtsamkeit im Team aufbauen

In Organisationen der Echtwelt wird die Effizienz von Usability-Prozessen nicht in Mannstunden pro Menge der ermittelten Daten gemessen. Man misst sie in Mannstunden im Verhältnis zum erreichten Grad der Produktverbesserung. Bündelweise Daten zu ermitteln bleibt nutzlos, wenn die resultierenden Empfehlungen nicht umgesetzt werden.

Der Hauptgrund dafür, Teammitglieder zur Beobachtung von Usability-Sitzungen einzuladen, besteht darin, dass dadurch die Akzeptanz für Usability-Ergebnisse erheblich verbessert wird. Sehen heisst Glauben. Und etwas live zu sehen wirkt noch stärker.

Sicher, wir können auch Videos von Kunden aufzeichnen, die Probleme mit einer Website haben, und Ausschnitte davon beim Meeting zeigen. Das ist durchaus wirksam, und wir machen das auch definitiv in unseren Seminaren, um die Wirkung und Erinnerbarkeit unserer Ergebnisse zu steigern.

Es ist aber noch viel wirksamer, wenn die Teammitglieder die gleichen Usability-Probleme live während einer Testsitzung mit Nutzern selber sehen. Das Problem ist nicht, dass sie uns verdächtigen, die Testvideos zu fälschen. (Was Sie natürlich niemals tun dürfen; werden Sie einmal mit gefälschten Daten erwischt, bringen Sie Ihre zukünftigen «Ergebnisse» um jede Glaubwürdigkeit.) Wirklich anwesend zu sein, während etwas passiert, hat eine viel stärkere Wirkung, als hinterher eine Aufnahme davon zu sehen, oder sogar bloss davon zu lesen.

Es hat viele Vorteile, wenn Teammitglieder während der Usability-Sitzungen anwesend sind:

Vorstandsmitglieder zur Teilnahme an Nutzertests einzuladen, hat viele ganz ähnliche Vorteile. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie nach einer Begegnung mit Nutzern dem Nutzererlebnis eine höhere Priorität geben. Und es wird weniger wahrscheinlich, dass sie künftig noch den aufgeblasenen Sprüchen von Werbeagenturen glauben werden, dass ein aufgemotztes Design «die Marke promoten» werde, wenn sie einmal mit eigenen Ohren gehört haben, mit welchen Worten ihre zahlenden Kunden solche Designs abfertigen. Und wenn es schliesslich an der Zeit ist, das Budget des nächsten Jahres zu verteilen, dann kann Ihnen gar nichts anderes passieren, als dass Sie mehr bekommen, wenn das Management versteht, was Sie tun – und das wird passieren, weil sich live erlebte Nutzersitzungen so fest im Gedächtnis einbrennen.

Die Risiken partieller Beobachtungen

Es ist Ihr Job, die Nutzertests durchzuführen. Die anderen Mitglieder des Designteams haben viele andere Dinge zu tun, und die Vorstandsmitglieder sind noch stärker beschäftigt.

Sie können oft darauf zählen, dass die Designer der aktuellen Nutzeroberfläche an allen Nutzerstudien teilnehmen, bei denen ihre eigenen Designs getestet werden, aber auch diese kommen bei Wettbewerbstests vielleicht nur zu einer oder zwei Sitzungen. Auf der anderen Seite kommt der Marketing-Manager vielleicht zu allen Sitzungen der Wettbewerbstests, aber vor dem fünften iterativen Test einer sich als sperrig entpuppenden Funktion wird er die Biege machen.

Die meisten Mitglieder des Teams werden nicht die Zeit haben, an allen Nutzersitzungen teilzunehmen. Schreiben Sie auf jeden Fall in Ihre Einladung, dass die Leute auch dann willkommen sind, eine oder zwei Sitzungen zu beobachten, wenn sie keine Zeit für weitere haben. Allerdings sind einige Probleme zu beachten, wenn die Leute nicht bei der ganzen Studie dabei waren:

Diese Probleme sind unvermeidlich, aber Sie können sie entschärfen, wenn Sie darauf achten und auch die anderen Akteure davor warnen. In jedem Fall werden die Nachteile von den Vorteilen einer Einladung an Kollegen und Vorstandsmitglieder, so viele Nutzertests wie möglich zu beobachten, bei weitem aufgewogen. Für die meisten von ihnen ist es die einzige Chance, einen leibhaftigen Kunden live zu erleben, und deshalb werden sie Ihnen dankbar sein – was ein weiterer Grund ist, das zu tun.

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.