Die Industrielle Revolution rückgängig machen

Die vergangenen 200 Jahre haben die Zentralisierung vorangetrieben und den menschlichen Alltag auf eine Weise verändert, die der Evolution widerspricht. Das Internet wird wieder eine besser ausbalancierte, dezentralisierte Lebensweise entstehen lassen.

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) – 22.11.2004

In den vergangenen 200 Jahren hat die Menschheit auf eine Weise gelebt und gearbeitet, die der Evolution widerspricht. Der Hauptschuldige, die Industrialisierung, geht bis auf Watts Dampfmaschine von 1769 zurück, kam aber erst 1801 mit Jacquards Webstuhl richtig unter Dampf, der mithilfe von Lochkarten den Webevorgang automatisiert hat. In der Folge veränderten zahlreiche technische Errungenschaften des 19. Jahrhunderts buchstäblich die Welt.

Ehe ich sie niederreisse, sollte ich das positive Ergebnis der industriellen Revolution anerkennen: Sie hat in ihrem 200jährigen Verlauf einen noch nie dagewesenen Wohlstand erzeugt. In den meisten industrialisierten Nationen besteht das grösste Gesundheitsproblem heutzutage darin, dass die Leute übergewichtig werden, weil es zu viel zu essen gibt und das Essen zu billig ist. Meine eigene Disziplin, die Usability, existiert nur, weil für die materiellen Bedürfnisse so umfassend gesorgt wird, dass die Gesellschaft Ressourcen der Frage widmen kann, wie man die Dinge einfach und zugleich angenehm machen kann.

Folgen der Industrialisierung

Für den Zweck dieser Diskussion differenziere ich nicht zwischen klassischer «Industrie» (produzierenden Betrieben) und anderen industriellen Bereichen wie der mechanisierten Landwirtschaft oder der grossen Masse an Unternehmen, wie sie im Buch «The Organization Man» beschrieben werden.

Die Industrialisierung hatte folgende Konsequenzen:

In ihrem Zusammenwirken führten diese Entwicklungen zu einer beispiellosen Zentralisierung des menschlichen Lebens. Dieser Effekt steht im Gegensatz zu unserer wichtigsten historischen Erfahrung als Menschen, die wir stets an Orten gelebt hatten, wo wir jeden kannten; entweder für uns selbst oder direkt für den Anführer einer eingeschworenen Gemeinschaft (etwa einer Jagdexpedition, eines Bauernhofs oder in einer Werkstatt) gearbeitet haben; und wo Arbeit und Leben eng miteinander verbunden waren (normalerweise dienten unsere Wohnungen zugleich als unsere Arbeitsplätze).

Das Internet der Schafthirte

Diese Zwischenüberschrift ist nicht ganz ernst gemeint: Eine Rückkehr zur Lebensweise der Hirten erwarte ich nicht und wünsche sie auch nicht. Aber ich denke doch, dass das Internet viele positive, aber verloren gegangene Aspekte der vorindustriellen Ära wiederbeleben kann:

Diese Trends treiben die Dezentralisierung an und reduzieren den Vorteil, gross zu sein.

Der Erlebniswandel

In der Welt ausserhalb des Internets gewinnt der Grosse dank Einsparnissen in der weltweiten Produktion, Vertrieb und Markenführung. Die meisten dieser Vorteile entstehen auch, wenn man bloss mittelmässig ist – und in der Tat profitiert man meistens, wenn man den kleinsten gemeinsamen Nenner anpeilt.

In der virtuellen Welt gewinnt derjenige, der gut ist: Automatisierung reduziert die Vorteile der Grösse, das Internet egalisiert den Vertrieb, und Reputation ist eher das Ergebnis von Qualität als von unaufhörlich wiederholten Slogans.

Ich spreche hier über eine Nutzererfahrung, die über das Konzept des Nutzererlebnisses, über das ich gewöhnlich schreibe, hinausgeht. Der Wechsel von Zentralisierung auf Dezentralisierung trifft den menschlichen Alltag in seinem Kern. Und da dieser Übergang die Qualität fördern wird, handelt es tendenziell um eine Kraft zum Guten.

Normalerweise überschätzen wir unsere kurzfristigen Möglichkeiten. Verbesserungen scheinen so nahe zu sein, dass wir sie förmlich riechen können – doch das menschliche Verhalten und soziale Institutionen lassen sich nur langsam verändern. Gleichzeitig unterschätzen wir, was auf lange Sicht passieren wird, weil sich Veränderungen anhäufen und beschleunigen.

Sicherlich haben wir in dem einen Jahrzehnt, in dem das Internet nun als kommerzielle Umwelt besteht, nicht 200 Jahre der Geschichte rückgängig gemacht. Doch wir verändern Aspekte des menschlichen Alltags, die von grosser Trägheit sind, etwa die Grösse von Städten und die Art, wie Körperschaften und Unternehmertum wirken. Diese Veränderungen mögen leicht dreissig oder vierzig Jahre beanspruchen, aber das zu erwartende Ergebnis wird dramatisch sein.

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.