• Facebook
  • Google+
  • Twitter
  • XING
07.06.2004

Anarchie der Fernbedienung

Die sechs Fernbedienungen, die man für ein einfaches Wohnzimmertheater braucht, illustrieren die Probleme komplexer und inkonsistenter Nutzeroberflächen.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 07.06.2004

 

Ich bin frustriert, wie schwierig es ist, mit meinem Fernseher einen Film zu sehen. Eigentlich sollte es ein entspannendes Erlebnis sein, aber permanent gerate ich in Probleme, wenn ich versuche, die verschiedenen Fernbedienungen zu bedienen, die man für diese simple Aufgabe braucht.

Bis ich mit meinen Fernbedienungen eine kleine Usability-Musterung durchgeführt hatte, wusste ich nicht, warum die Aufgabe so schwierig ist. Ich wusste nur, dass ich es lästig fand, und befand mich damit im Grunde in der gleichen Lage wie die meisten Opfer jener krummen Produkte, die die Unterhaltungselektronik-Industrie auf das Publikum loslässt.

Da mein Wohnzimmertheater recht maßvoll ausgebaut ist, muss ich "nur" sechs Fernbedienungen beherrschen (das Foto unten zeigt sie). Einige meiner Kollegen haben fantastische Heimtheater; ihre Leidensgeschichten haben ausgereicht, mich von jeglichem Modernisierungsversuch abzuschrecken. Ich könnte mir zwar mit Leichtigkeit mehr Geräte leisten, aber ich habe keine Zeit, mich durch die unausweichlichen Usability-Probleme hindurchzuquälen.

Wenigstens gibt es ein bisschen Gerechtigkeit in der Welt: Die Unterhaltungselektronik-Industrie verliert signifikant an Absatz, weil prospektive Kunden Angst vor den Komplikationen haben, die jeder Versuch mit sich bringt, in ihr vorhandenes System eine weitere Kiste zu integrieren. Lass’ die Finger davon, so lange es funktioniert. Wenn du irgendetwas Neues hinzukaufst, trifft dich der Schlag.

6 Fernbedienungen

Die sechs Fernbedienungen, die man braucht, um ein maßvoll ausgebautes Wohnzimmertheater zu bedienen. Von links nach rechts: die Bedienungen für einen Kabelempfänger, einen DVR (digitalen Videorecorder), einen DVD-Spieler, einen Fernseher, einen Stereoverstärker und einen Videorecorder.

Überbordende Komplexität

Meine Probleme fangen damit an, wenn ich das richtige Gerät herausgreifen will. Zugegeben, jede Fernbedienung ist recht eindeutig definiert: Es ist keine Frage, dass jede von ihnen ein bestimmtes Gerät steuert. Gleichwohl haben die meisten Fernbedienungen im Groben die gleiche Farbe und Form, wodurch es schwierig wird, aus dem unübersichtlichen Haufen die gewünschte herauszugreifen - vor allem in einem abgedunkelten Zimmer.

Der offensichtlichste Indikator der Fernbedienungs-Komplexität ist die schiere Anzahl der Knöpfe, die sie vorweisen: 239 Knöpfe im Ganzen. Ich brauche nur 33% davon einigermaßen regelmäßig. Zwei Drittel dienen keinem anderen Zweck als dem, mich zu verwirren und es schwerer zu machen, die Knöpfe zu erwischen, die ich brauche.

Ein kleiner Schritt zur Reduktion der Komplexität sind Kippschalter anstelle von zwei getrennten Knöpfen für paarige Befehle wie lauter/leiser. Kippschalter eliminieren 50% der Knöpfe und machen es offensichtlich, welches Verhältnis die beiden Seiten des Schalters zueinander haben. Um freilich die direkteste Übereinstimmung zwischen Bedienungsform und Zieloperation zu erzeugen, sollten die Kippschalter für Auf/Ab-Befehle senkrecht und die für Vor/Zurück-Befehle waagerecht stehen. Leider hält es meine Verstärker-Fernbedienung genau umgekehrt und vergrößert so die kognitiven Unkosten.

Etliche der zahlreichen Fernbedienungsknöpfe weisen obskure Aufschriften auf. Ein kleiner Auszug: AUX, lock, fav, r-in-a-circle, Replay zones, DSS Cable, Zero/C/A Skip, ADD/DLT, M/A Skip, SAP/HiFi, FQ+, FQ-, MD/Tape, DSP Mode, ATT, SIG Select und FL Dimmer.

Ein technisch versierter Nutzer mag ja einige der Aufschriften verstehen, aber die Usability wird drastisch vermindert, wenn man so viele unklare Möglichkeiten erwägen muss. Tatsächlich werden auch die 90% klar bezeichneten Knöpfe schwerer zu verstehen, wenn die anderen 10% Ihre Fähigkeit unterminieren, ein simples mentales Modell des Gerätes zu bilden und sich vorzustellen, was jedes Teil davon tut.

Auch Aufschriften, die als alleinstehende Wörter Sinn machen, können Usability-Probleme verursachen. Nehmen Sie zum Beispiel: Info, Help, Guide, Angle, Condition, Action, Direct, Midnight und Mode Check.

Ja, jedes einzelne Wort ist leicht genug zu begreifen, aber was machen die Knöpfe, die damit zu tun haben? Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen Info, Help und Guide (die sich alle auf der gleichen Fernbedienung befinden)?

Bessere Aufschriften könnten sicher die Usability ein bisschen verbessern, aber dies ist ein perfektes Beispiel für die schwer erarbeitete Lektion, dass die Nutzerpraxis über die Nutzeroberfläche hinausgeht. Man kann nicht einfach einer überkomplexen Struktur eine gute Oberfläche überstülpen. Ja, man kann die Frustration etwas abmildern, indem man klare Aufschriften, Kippschalter und andere Oberflächentricks verwendet, aber dieser Satz Fernbedienungen wird nie eine gute Nutzerpraxis erzeugen, wie gut auch das Industriedesign sein mag.

Um gute Usability zu erreichen, muss man die Komplexität reduzieren. Sicher, eine einzelne Universal-Fernbedienung würde vieles klären an der Situation. Eine bessere Integration zwischen den Geräten würde ebenfalls weiterhelfen: Der Nutzer sollte nicht gesonderte Kommandos zu jeder Kiste schicken müssen - sie sollten intern kommunizieren.

Einer der größten Schritte zu besseren Fernbedienungen wäre der, ihnen weniger Macht zu geben. Es ist nicht notwendig, dass man alle Funktionen seines Wohnzimmertheaters vom Sessel aus bedienen kann. Selbst der faulste Sofahänger kann einmal im Jahr seinen Hintern hoch kriegen und sich auf den Weg zur Anlage machen, um bestimmte Einstellungen vorzunehmen (in Wirklichkeit sind solche Operationen wahrscheinlich nur einmal im Produktleben nötig). Weniger Funktionen heißt weniger Knöpfe, weniger Komplexität, weniger Risiko, den falschen Knopf zu drücken, und eine größere Wahrscheinlichkeit, dass die Nutzer die verbleibenden nützlichen Funktionen wirklich begreifen.

Inkonsistente Nutzeroberflächen

Das grundlegendste aller Kommandos, der Ein/Aus-Knopf, hat auf meinen sechs Fernbedienungen drei verschiedene Orte: oben links (drei Fernbedienungen), oben rechts (zwei Fernbedienungen) und sowohl oben links als auch oben rechts (eine Fernbedienung). Die Geräte verwenden zudem drei verschiedene Designs, um diesen Knopf hervorzuheben:

  • einen Kreis oder Kasten um den Knopf,
  • eine bestimmte Knopffarbe (manchmal rot, manchmal orange) sowie
  • einen vertieften Knopf.
  • Jedes dieser Designs wird von einem Drittel meiner Fernbedienungen verwendet.

Alle sechs Geräte haben eine eigene Zahlentastatur - einer der Exzesse, die die Gesamtzahl der Knöpfe explodieren lassen. Schlimmer noch, es gibt vier verschiedene Layouts für dieses elementare Design-Element:

  • Das Standard-Telefon-Layout. Drei Fernbedienungen verwenden dieses Design (Fernseher, Kabelempfänger und DVR).
  • Eine Extra-100er-Taste. Dieser befindet sich auf der Fernbedienung des Videorecorders links von der "0"-Taste. Vermutlich war der Gedanke, dem Nutzer einen Kurzbefehl anzubieten, der ihm Tasteneingaben erspart, aber die mentale Zeit, die man braucht, um diese außerordentliche Eingabe-Option in Betracht zu ziehen und auszuwählen, übersteigt die Tippzeit bei weitem, die man braucht, um zwei Standardknöpfe am normalen Ort zu drücken.
  • Nicht standardisierte Oberzeilen. Ein Gerät verwendet vier Ziffern pro Zeile (1-2-3-4 und 5-6-7-8) sowie einen Extra-10er-Knopf. Das unterschiedliche Layout der Zeilen vereitelt jede Möglichkeit, das motorische Gedächtnis zu nutzen, um einfach Ziffern einzugeben. Der Extra-10er-Knopf verursacht die gleichen Probleme wie der oben besprochene 100er-Knopf, aber er verwickelt die Lage, weil der Nutzer gezwungen ist, zwei verschiedene außerordentliche Wege zur Eingabe mehrziffriger Zahlen zu verstehen.
  • Eine nicht standardisierte Unterzeile. Die Unterzeile der DVD-Fernbedienung enthält eine Null, wodurch statt der drei- eine vierziffrige Zeile entsteht (7-8-9-0).

Das Standard-Telefon-Layout für Zahlentastaturen zu verwenden ist eine offensichtliche Richtlinie. Leider befolgen sie nur 50% der Fernbedienungen.

Außerdem verwenden sie inkonsistente Farben. Die sechs Fernbedienungen weisen fünf verschiedene Farben für die Knöpfe und sechs verschiedene für die Aufschriften auf, ohne irgendein System, welche Farbe was bedeutet.

Integration und Einfachheit

Zu viele Knöpfe, zu viele unwichtige Funktionen, vierundzwanzig obskure Aufschriften und Inkonsistenzen bei einfachsten Operationen wie der Zahleneingabe. Kein Wunder, dass dieser Satz von sechs Fernbedienungen eine schreckliche Usability hat und einen gewissen Nutzer verärgert, wenn er sich gerade entspannen will. Schön wär’s, wenn er der Einzige wäre, der leidet.

Jede meiner Fernbedienungen hat ihre eigenen Usability-Probleme und verletzt verschiedene Usability-Richtlinien. Aber das wirkliche Usability-Desaster kommt zustande, wenn sich die sechs Fernbedienungen zu einer einzigen Nutzeroberfläche fürs Abspielen von Filmen verknüpfen.

Jeder Hersteller kann seine Hände in Unschuld waschen, was das Fehlen einer anständigen Nutzeroberfläche angeht. Schließlich ist jeder nur für sein eigenes Gerät verantwortlich und nicht für das ganze System. Aber das ist eine lausige Entschuldigung. Die Nutzer haben das Recht auf Geräte, die gut funktionieren, wenn sie gutes Geld dafür bezahlt haben. Wer zum Beispiel schafft sich Kabelfernsehen an, ohne einen Fernseher und wahrscheinlich noch einige andere Komponenten zu besitzen?

Die Nutzer würden niemals ein Produkt der Unterhaltungselektronik akzeptieren, dass es nicht zulässt, die eine Kiste mit der anderen über ein Standardkabel zu verbinden, das die Video- oder Audiosignale überträgt. In der heutigen Welt ist kognitive Kompatibilität genauso wichtig wie technische Kompatibilität. Wenn sie mehr Kisten verkaufen will, muss die Unterhaltungselektronik-Industrie in einem Akt kollektiver Zusammenarbeit ein einheitliches Interaktionsdesign entwerfen.

Lektionen fürs Web

Bevor die Web-Designer sich allzu sehr zurücklehnen, lasst uns daran erinnern, dass wir online vor genau den gleichen Problemen stehen:

  • Oft müssen die Nutzer diverse Websites aufsuchen, um eine einzelne Aufgabe zu lösen, und auch im heutigen Web gibt es noch keine Worflow-Unterstützung von Site zu Site. Selbst eine einfache Aufgabe wie der Vergleich von Produktbeschreibungen ist übermäßig schwierig, weil jede Site die gleichen Informationen auf verschiedene Weise präsentiert. (Es ist sogar schwer, innerhalb ein und derselben Site Möglichkeiten zu vergleichen, und nur wenige Sites bieten gute Vergleichswerkzeuge an.)
  • Die einfachsten und gewöhnlichsten Operationen werden auf verschiedenen Sites in Myriaden von Arten angezeigt.
  • Es gibt immer ein paar Site-Designer, die glauben, sie müssten abwegige Nutzeroberflächen erfinden, anstatt sich in den normalen Weg zu fügen, bestimmte Dinge zu tun; sie schaden den Nutzern und schädigen das Geschäft. Leider vergiften solche Sites auch die, die für alle gut sind: Aus dem Rahmen fallende Designs verringern das Vertrauen der Nutzer beim Operieren mit Sites, die ihre Funktionen standardisiert haben.
  • Manche Site-Designer lassen die darunter liegende Technik ihr hässliches Haupt erheben und Nutzer-Illusion durchbrechen.
  • Viele Sites bieten den Nutzern viel mehr Funktionen an, als sie wahrscheinlich brauchen, um ihre Aufgabe abzuschließen.

Das nächste Mal, wenn Sie von den Fernbedienungen in Ihrem Wohnzimmer frustriert sind, denken Sie darüber nach, ob Sie den Leuten, die Ihre Website oder Ihr Intranet nutzen, nicht ganz ähnliche Usability-Probleme aufhalsen.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

Kommentare auf diesen Beitrag

    Keine Kommentare

Kommentar hinzufügen

Die mit * gekenzeichneten Felder sind zwingend auszufüllen