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14.03.2005

Usability für leseschwache Nutzer

Leseschwache Nutzer zeigen ein ganz anderes Leseverhalten als Nutzer mit normaler Lese- und Schreibfähigkeit: Sie ackern den Text durch, anstatt ihn zu überfliegen, und sie achten wegen ihres engeren Blickfeldes nicht auf Seitenelemente.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 14.03.2005

 

Seit 1997 wissen wir, wie die meisten Nutzer im Web lesen: Sie überfliegen den Text und picken sich die Stücke heraus, die sie interessieren. Die Usability-Richtlinien für das Bereitstellen von Web-Inhalten sind im Wesentlichen seit 1997 gleich geblieben, doch jetzt gibt es Neuigkeiten.

Kürzlich haben wir unsere Forschung auf einen grossen Teil der Bevölkerung ausgedehnt, der bei früheren Studien ausgelassen worden ist: leseschwache Nutzer. Dabei hat sich herausgestellt, dass sich deren Online-Verhalten radikal von dem der lesestärkeren Nutzer unterscheidet.

Diese neue Forschung im Bereich Usability für Leseschwache wurde von der Firma Pfizer gesponsert, die sich zurzeit stark darum bemüht, ihre Verbraucherkommunikation für ein breites Verbraucherpublikum verständlich und einfach handhabbar zu machen. Gesundheits-Informationen zu verstehen kann ungeachtet der Lese- und Schreibfähigkeit für jeden eine Herausforderung bedeuten, deshalb wird der Nutzen dieser Bemühungen auch sehr weitreichend sein und die Verbraucher darin unterstützen, ihren Gesundheitszustand zu verstehen und zu behandeln.

Die Charakteristik leseschwacher Nutzer

Leseschwäche unterscheidet sich von Analphabetismus: Leseschwache Menschen können lesen, aber es fällt ihnen schwer.

Der auffälligste Unterschied zwischen leseschwachen und lesestarken Nutzern liegt darin, dass leseschwache Nutzer einen Text nicht auf einen Blick verstehen können. Sie müssen ihn Wort für Wort durchlesen und brauchen oftmals auch länger, um mehrsilbige Wörter zu verstehen.

Leseschwache Nutzer konzentrieren sich ausschliesslich auf jedes einzelne Wort und bewegen ihre Augen langsam durch jede einzelne Textzeile von links nach rechts. Mit anderen Worten, sie "ackern" den Text Zeile für Zeile durch. Weil sich dadurch ihr Blickfeld verengt, übersehen sie Objekte, die ausserhalb des Haupttextflusses stehen, den sie gerade lesen.

Anders als lesestarke Nutzer überfliegen leseschwache Nutzer den Text nicht. Daher kommt es, dass sie zum Beispiel nicht mit einem raschen Blick auf eine Liste von Navigationsmöglich­keiten die gewünschte auswählen können. Sie müssen jedes Wort in jeder Option sorgfältig lesen. Sie haben nur die Wahl, grosse Informationsmengen komplett zu überspringen, was sie auch oft tun, wenn es ihnen zu kompliziert wird.

Leseschwache Nutzer neigen dazu, sich mit sehr wenig Informationen zufrieden zu geben - und sich zu sagen: "das reicht" -, weil sie zu viel lesen müssten, um tiefer zu graben, was sie als zu schwierig und zu zeitaufwändig empfinden. Sobald ein Text zu dicht wird, fangen leseschwache Nutzer an, Passagen zu überspringen, und suchen gewöhnlich nach dem nächsten Link. Dabei übersehen sie oft wichtige Informationen.

Dazu kommt: Wenn sie scrollen müssen, wird ihre visuelle Konzentration unterbrochen, weil sie nicht durch Überfliegen die Stelle wiederfinden können, bis zu der sie gelesen hatten.

Schliesslich haben leseschwache Nutzer aus zwei Gründen Probleme bei der Suche. Erstens haben sie oft Schwierigkeiten, die Suchbegriffe zu buchstabieren. Zweitens haben sie Schwierigkeiten, Suchergebnisse zu verarbeiten, weil sie normalerweise wunderliche, aus dem Zusammenhang gerissene Textschnipsel anzeigen. So kommt es, dass leseschwache Nutzer oft einfach den ersten Treffer der Liste anklicken, auch wenn er gar nicht so gut zu ihren Bedürfnissen passt.

Wie man die Usability für leseschwache Nutzer verbessert

Der wichtigste und naheliegendste Hinweis ist, den Text zu vereinfachen: Verwenden Sie auf der Startseite, auf wichtigen Verteilseiten und Eingangsseiten Text, der für das Leseniveau des 6. Schuljahres geeignet ist. Verwenden Sie auf den übrigen Seiten Text, der auf das Leseniveau des 8. Schuljahres abgestimmt ist.

Doch auch auf andere Weise können Sie die Usability für leseschwache Nutzer verbessern.

Das Wichtigste zuerst. Platzieren Sie die Hauptaussage jeweils ganz oben auf der Seite, wo auch die Leser sie sehen, die normalerweise nach ein paar Zeilen aufgeben. Platzieren Sie alle weiteren wichtigen Informationen oberhalb der Bildschirmkante, um das Risiko zu verringern, dass Nutzer beim Scrollen den Anschluss dorthin verlieren. Das ist immer eine gute Praxis; auch die geschicktesten Nutzer verlassen eine Seite, wenn ihnen die ersten Absätze nicht lohnenswert vorkommen. Besser noch, Sie verzichten ganz auf das Scrollen (was auch Teenagern hilft), es sei denn, Sie müssen dann den Inhalt in unnatürlich kurze Stücke zerhacken, was noch verwirrender sein kann.

Vermeiden Sie Text, der sich bewegt oder verändert, wie etwa Animationen und ausfahrende Menüs. Statischer Text ist leichter zu lesen. Diese Richtlinie hilft auch internationalen Nutzern (die vielleicht Wörter im Wörterbuch nachschlagen müssen) und Nutzern mit motorischen Problemen (die Schwierigkeiten haben, etwas zu treffen, das sich bewegt).

Rationalisieren Sie die Seitengestaltung. Platzieren Sie wichtige Inhalte in einer einzelnen Hauptspalte, damit die Nutzer die Seite nicht überfliegen und Design-Elemente aus einem zweidimensionalen Layout heraussuchen müssen. Diese Richtlinie hilft auch sehbehinderten Nutzern und Nutzern mobiler Endgeräte (wie Smartphones) mit engem Sichtfenster.

Vereinfachen Sie die Navigation, indem Sie die wichtigsten Wegweiser in einem linearen Menü anordnen. Das hilft den Nutzern, den nächsten Zielort klar zu erkennen, ohne dass sie die Seite nach Optionen durchsuchen müssen.

Optimieren Sie die Suche. Programmieren Sie die Suchfunktion so, dass sie tolerant auf Schreibfehler reagiert (was auch den Senioren hilft, die sich besonders häufig vertippen). Idealerweise sollte der erste Suchtreffer die Frage beantworten, und alle Treffer sollten kurze, leicht lesbare Zusammenfassungen liefern.

Wie gross ist die leseschwache Bevölkerung?

Gemäss einer Nationalen Untersuchung der Lese-und Schreibfähigkeit bei Erwachsenen, durchgeführt vom US-Bildungsministerium, sind 48% der US-Bevölkerung leseschwach. (In den übrigen entwickelten Ländern ist das Niveau der Lesefähigkeit im Grossen und Ganzen ähnlich, allerdings etwas höher in Skandinavien.)

Aus nahe liegenden Gründen hat Webdesign nur mit den Web-Nutzern zu tun und nicht mit der Gesamtbevölkerung. Im Allgemeinen neigen leseschwache Menschen dazu, das Internet weniger zu nutzen als lesestarke.

Auf Grundlage der verfügbaren Informationen über die Internet-Beteiligung in den verschiedenen Bildungsniveaus schätze ich, dass 30% der Web-Nutzer leseschwach sind. Da die meisten besser gebildeten Leute bereits online sind, wird das zukünftige Wachstum im Internet-Gebrauch hauptsächlich von leseschwachen Nutzern kommen. Deshalb werden in fünf Jahren oder so leseschwache Nutzer wahrscheinlich 40% der Web-Nutzer stellen.

Wer sollte sich um leseschwache Nutzer kümmern?

Die langjährige Erfahrung zeigt, dass eine bessere Usability für behinderte Nutzer normalerweise auch die Usability für nichtbehinderte Nutzer steigert. In ähnlicher Weise kann eine Verbesserung von Websites für leseschwache Nutzer ebenfalls den besser gebildeten Nutzern helfen. Davon abgesehen zielen manche Sites hauptsächlich auf lesestarke Nutzer ab:

  • B-to-B-Sites, die Geschäftsleute, Manager und Entscheidungsträger ansprechen,
  • E-Commerce-Sites, die teure oder intellektuelle Produkte verkaufen,
  • die Presse- und Investor-Relations-Bereiche von Firmen-Websites,
  • inhaltliche Sites mit wissenschaftlichen oder verwandten Themen,
  • Intranets für Kopfarbeiter.

Meine eigene Alertbox-Kolumne enthält B-to-B-Inhalte mit der Zielgruppe Geschäftsleute und leitende Angestellte, die Usability für wichtig halten. Ich schreibe sie normalerweise auf dem Leseniveau des 13. Schuljahres, was viel zu schwierig ist für leseschwache Nutzer und auch zu kompliziert für die Mehrheit des B-to-C-Publikums. Im Hinblick auf meine Leserschaft ist dieses Lesbarkeitsniveau akzeptabel.

Sites jedoch, die auf ein breiteres Publikum abzielen, müssen primär leseschwache Nutzer berücksichtigen. Dazu gehören:

  • Websites von Behörden, vor allem solche für Senioren oder für Arbeitslose,
  • Gesundheits-Websites,
  • Unternehmen, die Massenartikel verkaufen,
  • Personalinformationen und Intranet-Applikationen im Bereich von Arbeitnehmervergütungen für Firmen mit vielen gewerblichen Arbeitnehmern

Fallstudie: Was steht auf dem Spiel?

Um abzuschätzen, welchen Einfluss Texte für leseschwache Nutzer haben, haben wir Usability-Metriken gesammelt, bevor und nachdem die Website-Inhalte für ein bedeutendes pharmazeutisches Produkt umgeschrieben und gemäss den neuen Richtlinien vereinfacht worden waren.

Wir haben beide Website-Versionen mit fünfzig Nutzern getestet; darunter waren sowohl leseschwache als auch lesestarke Nutzer. Wir haben einen so genannten "between-participant" Test mit einem "double-blind"-Protokoll durchgeführt, bei dem weder der Testleiter noch der Teilnehmer wusste, ob sie die Original-Site oder die überarbeitete Site testeten.

Anmerkung der Übersetzung: Man unterscheidet beim experimentellen Setup des Tests zwischen "between und within participants". Führt man ein "between participant"-Test durch, testet der Anwender jeweils nur eine Bedingung, in diesem Fall die Website vor oder nach der Anpassung. Würde man einen "within participant"-Test durchführen, würde jeder der Probanden sowohl die Original-Site als auch die überarbeitete Site testen. "Double-Blind" heisst das Protokoll, weil sowohl der Testleiter als auch der Teilnehmer nicht wussten, welche Website sie testeten (die Original-Site oder die überarbeitete Site).

Wie die folgende Tabelle zeigt, haben wir drei Usability-Metriken gesammelt: die Erfolgsrate (ob die Leute die Aufgaben lösen konnten), die Gesamtzeit, die sie gebraucht haben, um sieben repräsentative Aufgaben zu lösen, und die subjektive Zufriedenheit der Nutzer anhand eines Fragebogens, den sie nach der Testsitzung ausgefüllt haben.

ErfolgsrateOriginal-Siteumgeschriebene Site
leseschwache Nutzer46%82%
lesestarke Nutzer68%93%
Gesamtzeit für die AufgabenOriginal-Siteumgeschriebene Site
leseschwache Nutzer22.3 min9.5 min
lesestarke Nutzer14.3 min5.1 min
Zufriedenheit (auf einer Skala von 1 bis 5; 5 am besten)Original-Siteumgeschriebene Site
leseschwache Nutzer3.54.4
lesestarke Nutzer3.74.8


Die überarbeitete Site hatte bei allen drei Messwerten eine dramatisch bessere Usability: Die Nutzer haben mehr korrekte Informationen erhalten, haben weniger Zeit gebraucht und haben die Site als besser empfunden. Alle Unterschiede zwischen den beiden Sites sind statistisch signifikant mit p<0.05.

Leseschwache Nutzer konnten ihre Leistung um 135% steigern, gemessen daran, wie schnell sie die Aufgaben lösen konnten, und das ist ein Hauptkriterium für die Bereitschaft von Nutzern, auf einer Site zu bleiben.

Bei allen drei Messwerten haben die leseschwachen Nutzer mit der überarbeiteten Site besser abgeschnitten als die lesestarken Nutzer mit der Original-Site.

Zugleich gingen die Verbesserungen für die leseschwachen Nutzer nicht auf Kosten der lesestarken Nutzer. Im Gegenteil, auch die lesestarken Nutzer haben bei allen drei Messwerten mit der überarbeiteten Site besser abgeschnitten. Wenn Leute die Fähigkeit haben, komplexe Informa­tionen zu verstehen, bevorzugen sie dennoch die einfacheren und direkteren Gesundheitsinformationen.

Die Original-Site war das Werk einer renommierten Agentur und keineswegs schlecht: Sie schnitt mit einer Erfolgsrate von 68% bei lesestarken Nutzern gegenüber dem Durchschnitt von 66% bei unserer letzten breit angelegten Usability-Studie durchaus vorteilhaft ab. (Diese Studie hat keine leseschwachen Nutzer eingeschlossen, so dass wir nur die Werte für lesestarke Nutzer vergleichen können.) Auch die subjektive Zufriedenheit mit der Original-Site ist mit 3.7 höher als die durchschnittliche Zufriedenheit, die wir zuletzt für 184 Websites gemessen haben.

Zusammengefasst: Den Text für ein breites Verbraucherpublikum umzuschreiben hat eine gute Site exzellent gemacht und allen Nutzern genützt. Das Ausmass der Verbesserung war bedeutend: Usability ist nicht ein kleiner Kniff am Rande - sie verdoppelt die Fähigkeit einer Website, ihre Ziele zu erreichen.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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