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30.04.2006

Firmen-Usability: Reifegrad: 5-8

Eine Organisation, die das Stadium des Usability-Managements erreicht hat, hat immer noch einen weiten Weg vor sich bis zum Usability-Nirwana. Diese höheren Reifegrade zu erreichen erfordert langjährige Anstrengungen.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 01.05.2006

 

Um wirklich zur nutzerzentrierten Organisation zu werden, müssen Unternehmen fast immer die gleiche Abfolge von Stufen durchlaufen und schrittweise das Niveau ihrer Selbstverpflichtung gegenüber der Usability anheben. Mein Artikel der vergangen Woche hat die frühen Stadien dieser Reise beschrieben: von der Feindschaft gegenüber Usability bis zur Etablierung eines ausgewiesenen Usability-Budgets.

Stadium 5: Usability-Management

Auf dieser Stufe können wir endlich sagen: Die Usability hat es im Unternehmen geschafft. In Stadium 4 sind gestückelte Usability-Budgets über die gesamte Organisation hin verstreut. Allerdings können diese Budgets ohne Aufsehen wieder gestrichen und das Personal den Nicht-Usability-Bereichen ihrer Projekte zugeteilt werden.

Im Stadium 5 gibt es eine offizielle Usability-Gruppe, die von einem Usability-Manager geführt wird. Normalerweise beginnt die Gruppe mit wenigen Mitgliedern, aber sie tendiert zum Wachstum und dazu, Platz für ein ausgewiesenes Usability-Labor zu beanspruchen, wenn die Firma ihre Nutzertests ausweitet. Stadium 5 ähnelt Stadium 4 bei der Auswahl der Usability-Methoden: Der Schwerpunkt liegt bei Nutzertests, die in der Regel zu spät im Entwicklungszyklus gemacht werden.

Der wichtigste Unterschied ist der, dass die Studien konsistenter durchgeführt werden, weil die Usability-Gruppe ihre Methoden ständig verfeinert und ihre Mitglieder voneinander lernen. Die Gruppe kann ausserdem ein Archiv mit Usability-Berichten anlegen, um frühere Ergebnisse griffbereit zu halten. Dadurch wächst das Verständnis für die Nutzer der Firma und es verdichtet sich zu firmenspezifischen Usability-Richtlinien. Solche Einsichten über die Projektgrenzen hinweg sind ein früher Schritt in Richtung systematische Usability-Prozesse, wie sie den Reifegrad Nummer 6 in der Firmen-Usability kennzeichnen.

Zu guter Letzt ist Stadium 5 das erste Stadium, in dem das Unternehmen über eine Person verfügt, deren Aufgabe es ist, organisationsweit und projektübergreifend über Usability nachzudenken. Wenn Usability-Manager ihre ganze Zeit damit verbringen, einzelne Designfehler zu korrigieren, versäumen Sie ihre wichtigste Aufgabe: die organisatorische Reife zu steigern und die vorhandenen Usability-Ressourcen zu mehr strategischen Zwecken einzusetzen. Die Methoden, Usability zu predigen, ändern sich, wenn Sie versuchen, ins Stadium 6 zu gelangen. An dieser Stelle muss der Usability-Manager Gelegenheiten erzeugen, bei denen das Senior-Management den gewaltigen wirtschaftlichen Wert erkennen kann, der entsteht, wenn man einen systematischeren Usability-Ansatz verfolgt und nicht mehr bloss am Ende des Projekts Tests fährt.

Das Problem ist, dass das Usability-Budget im Stadium 5 zu eng ist, um für alle Projekte alle empfohlenen Usability-Aktivitäten durchzuführen. Stattdessen muss der Usability-Manager einige besonders viel versprechende Projekte auswählen und hier spektakuläre Gewinne für nutzerzentriertes Design erzielen. Die übrigen Projekte müssen mit den eher fragmentarischen Usability-Methoden auskommen, die für Stadium 5 charakteristisch sind.

Stadium 6: Der systematische Usability-Prozess

Im Stadium 6 ist Usability nicht mehr länger der Zaubertrank, den man in letzter Minute über die Nutzeroberfläche träufelt. Das Unternehmen hat den Bedarf nach einem wirklichen nutzerzentrierten Prozess mit vielfältigen Aktivitäten und Teilschritten erkannt. Bei wichtigen Projekten führt das Team frühzeitig aktive Nutzerforschung durch, bevor man irgendein Design baut. Normalerweise hat das Unternehmen auch einen Design-Standard für Nutzeroberflächen und eine zentrale Definition der bevorzugten Designmuster.

Zudem hat ein Unternehmen in Stadium 6 wahrscheinlich einen Prozess im Einsatz, der die Qualität des Nutzererlebnisses im Ablauf der Designprojekte und über die verschiedenen Versionen hinaus nachhaltig festhält.

Das obere Management überwacht diese Qualitätsindikatoren genau wie andere Geschäftsindikatoren auch, und Projekte mit schlechtem Design werden richtig gestellt, bevor sie die Kunden erreichen.

Schliesslich verbreitet sich in diesem Stadium das iterative Design, weil es dem Unternehmen klar wird, dass eine Runde Usability-Reparaturen nicht genügt, um beste Schnittstellenqualität hinzubekommen.Man erzielt viel bessere Ergebnisse, wenn man eine Serie von Designs schrittweise verfeinert - von frühen Papierprototypen bis zur endgültigen Implementierung - und jeden dieser Schritte testet. Das Usability-Budget ist in Stadium 6 zwar noch nicht üppig, aber gross genug, um Schlüsselprojekte mit hinreichenden Ressourcen für die Durchführung einer Kette von Nutzertests auszustatten.

Die schlichte Tatsache, dass Projekte je nach dem wirtschaftlichen Nutzen ihres Nutzererlebnisses vorrangig behandelt werden, ist ein weiteres Indiz für diesen Reifegrad. Zu guter Letzt gehen auch solche Projekte, die keine grossen Usability-Ressourcen abbekommen, durch eine minimale Form von Usability-Überprüfung, ehe sie freigegeben werden.

Um über das Stadium 6 hinauszukommen, müssen Sie alle Manager und Team-Mitglieder davon überzeugen, dass Usability ein Teil ihres Jobs ist, und dass die Forschungsergebnisse ihnen helfen, eine bessere und befriedigendere Arbeit zu leisten. Es ist fast so, als ob Sie wieder im Stadium 2 wären, soweit es darum geht, eher einzelne Personen zu "bekehren" als lediglich für grössere Usability-Budgets einzutreten.

Stadium 7: Das integrierte nutzerzentrierte Design

Im Stadium 6 beginnt das Unternehmen damit, Feldstudien durchzuführen. Im Stadium 7 rückt diese Form sehr frühzeitiger Nutzerforschung mehr in den Vordergrund. Im Reifegrad 7 wird jeder Schritt im Entwicklungszyklus mit Nutzerdaten angereichert, einschliesslich der Projektdefinition und des Pflichtenheftes. Über die für Stadium 6 typische simple Abschätzung der Qualität des Nutzererlebnisses hinaus hält das Unternehmen in Stadium 7 die Qualität oft in quantitativen Usability-Metriken nach.

Zudem hat jedes Projekt definierte Usability-Zielvorgaben, die von den Messergebnissen erfüllt werden müssen, damit das jeweilige Design grünes Licht zur Freigabe bekommt. In den früheren Reifestadien ist Usability hauptsächlich eine qualitative Disziplin, die die Nutzerfreundlichkeit von allem gewährleistet, was das Unternehmen herstellt. Im Stadium 7 beginnt das Unternehmen, auf Usability-Daten zurückzugreifen, um zu bestimmen, was es herstellen soll. Es ist schwer, über das Stadium 7 hinauszugelangen, da es, was Interaktionsdesign betrifft, bereits ziemlich nah am Usability-Nirwana liegt. Stufe 8 trägt die Usability über das Design hinaus. Um diesen Graben überspringen zu können, müssen Sie das Rad zurückdrehen und sich abermals auf die "Bekehrung" der Vorstandsmitglieder konzentrieren.

Stadium 8: die nutzerorientierte Gesellschaft

Im Stadium 8 definieren Nutzerdaten nicht mehr bloss einzelne Projekte, sondern sie bestimmen darüber, in welche Art von Projekten das Unternehmen investieren soll. Das heisst, das Unternehmen setzt Nutzerforschung ein, um seine gesamte Richtung und seine Prioritäten zu bestimmen. Der Hauptunterschied zwischen den Stadien 7 und 8 ist ein gradueller. Die Firma verwendet meist die gleichen Usability-Methoden wie vorher, aber auf dieser höchsten Reifestufe greifen jene Methoden auf die Strategie und die Aktivitäten jenseits des Interaktionsdesigns über.

Zwar treten zahlreiche Management-Bücher dafür ein, Kunden-Input in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, aber Unternehmen, die für diesen Zweck Daten des wirklich beobachteten Nutzerverhaltens verwenden, sind selten. Stattdessen geben sich die meisten mit Umfragen oder anderen weniger zuverlässigen Indikatoren dessen zufrieden, was die Kunden sagen, statt sich anzusehen, was sie tun.

Um das wirkliche Kundenverhalten zu studieren, braucht man Methoden aus der Usability-Werkzeugkiste. Gehen Sie immer nur von einem Schritt zum nächsten Es folgen Schätzungen darüber, wie viel Zeit ein Unternehmen normalerweise braucht, um von einem Usability-Reifegrad zum nächsten voranzuschreiten, gestützt auf meine Erfahrung mit zahlreichen Organisationen in vielen Ländern (siehe auch den früheren Artikel mit den Definitionen der Stadien 1 bis 4):

  • Stadium 1: Ein Unternehmen kann jahrzehntelang im Stadium der Feindschaft gegenüber Usability verharren. Erst wenn es von einem Design-Desaster getroffen wird, wird es motiviert sein, sich fortzuentwickeln.
  • Stadien 2-4: Oft braucht ein Unternehmen zwei bis drei Jahre für jedes dieser Stadien. Sobald es Stadium 2 erreicht hat (Usability anerkannt, wird aber von den eigenen Meinungen des Design-Teams abgeleitet), braucht ein Unternehmen normalerweise etwa sieben Jahre, um Stadium 5 zu erreichen (Bildung einer Usability-Gruppe mit einem Usability-Manager).
  • Stadien 5-7: Auf diesen höheren Niveaus verläuft der Reifeprozess deutlich langsamer. Oft wird ein Unternehmen sechs bis sieben Jahre für Stadium 5 und genau so viel für Stadium 6 brauchen, so dass etwa 13 Jahre vergehen, bis es Stadium 7 erreicht.
  • Stadium 8: Erst wenige Unternehmen haben diesen höchsten Grad der Usability-Reife erreicht; deshalb ist es verfrüht abzuschätzen, wie lange es braucht, um von Stadium 7 zum Stadium 8 zu gelangen. In den meisten Fällen werden es wohl zwanzig Jahre sein.

Insgesamt braucht man also zwanzig Jahre, um von Stadium 2 (extrem unreife Usability) zum Stadium 7 (sehr reife Usability) zu gelangen. Wahrscheinlich brauchen die Unternehmen dann weitere zwanzig Jahre, um die letzte Stufe zu erreichen. Natürlich unterscheidet sich der exakte Zeitablauf je nach Organisation. Was hingegen konstant bleibt, ist die Notwendigkeit, die acht Stufen in Folge durchschreiten zu müssen.

Start-ups sind besser dran und können, je nach der zurückliegenden Usability-Erfahrung der Gründer, mit Stadium 3 oder 4 beginnen. Manche Firmen haben auch bereits bei ihren ersten zehn Einstellungen einen Usability-Spezialisten dabei. Doch auch dann müssen die Unternehmen die höheren Stadien eines nach dem anderen durchschreiten, genau wie ein etablierteres Unternehmen.

Wenn Ihr Unternehmen sich zurzeit auf einem niedrigen Reifegrad befindet, mag es verführerisch sein, ihm die Sporen zu geben und direkt auf eine der höheren Stufen zu springen, indem man jeden auffordert, sofort alles zu tun, was für den voll nutzerzentrierten Prozess empfohlen wird. Wenn Sie das tun, sind Sie zum Scheitern verurteilt. Zu viele gleichzeitige Änderungen erzeugen unnötigen Wirbel in der Organisation.

Die Leute sind den Konzepten und Ansprüchen der späteren Stadien nicht gewachsen, wenn sie keine Zeit hatten, sich auf die weniger drastischen Änderungen in den früheren Stadien einzustellen. Eine gute Metapher dafür stammt aus dem Tiefseetauchen: Man kann nicht direkt zur Oberfläche auftauchen, ohne die Kurven auszufahren. Sicher ist es frustrierend, wenn man etwa im Stadium 3 ist und man muss einsehen, dass das nächste Stadium der Existenz das Stadium 4 ist, obwohl doch Stadium 5 oder 6 viel schöner aussieht.

Aber der Plan mit den besten Erfolgsaussichten sieht vor, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Um auf ein höheres Niveau zu gelangen, machen Sie nicht weniger Sprünge, sondern springen Sie schneller auf die nächste Stufe. Sobald Sie gelernt haben, wie man die Organisation kitzeln muss, damit sie sich von der Stelle bewegt, können Sie in dem Moment mit den Planungen für den nächsten Schritt nach oben beginnen, wenn Sie eine neue Stufe erreicht haben.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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