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22.02.2010

Ist der Usability-Fortschritt schnell oder langsam?

In den vergangenen 10 Jahren hat sich die Usability um 6% pro Jahr verbessert. Diese Rate liegt höher als in den meisten anderen Feldern, aber viel niedriger, als der technische Fortschritt es vorausgesagt haben könnte.

 

by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 22.02.2010

 

Die gute Nachricht: Wir machen Fortschritte bei der Usability. Die Websites und andere Nutzeroberflächen werden jedes Jahr besser, und die Verbesserungen summieren sich über die Jahrzehnte hinweg, so dass die gegenwärtigen Qualitätsniveaus substantiell höher liegen als in den frühen Tagen des Internets oder der PCs.

Besser noch: Der Usability-Fortschritt ist schneller als die meisten anderen Arten des menschlichen Fortschritts.

Die schlechte Nachricht: Die Usability-Fortschritte sind erheblich langsamer als Fortschritte auf anderen Gebieten der Computertechnik.

Schlimmer noch: wir werden 74 Jahre brauchen, um eine akzeptable Qualität des Nutzererlebnisses zu erreichen.

Die Verbesserungsraten bei der Usability

Normalerweise berichte ich lieber über Erfolgsquoten, weil sie der einfachste Usability-Messwert und leicht zu verstehen sind: Können die Leute das Design nutzen oder nicht? In diesem Artikel allerdings betrachte ich die Abbruchquote; das ist einfach die Umkehrung der Erfolgsquote.

Zum Beispiel bedeutet eine Erfolgsquote von 70% bei einer Website, dass die Nutzer in der Lage waren, 70% aller Aufgaben abzuschliessen, die sie auf jener Website ausprobiert haben. Das bedeutet natürlich, dass sie in 30% der Fälle gescheitert sind, und das ist die Abbruchquote.

In dieser Analyse verwende ich Abbruchquoten als Messwerte, weil sie einen direkten Vergleich mit anderen Qualitätsfeldern erlauben.

In den vergangenen 10 Jahren haben wir formale Usability-Messwerte für 262 Websites gesammelt. Im Jahr 2000 lag die durchschnittliche Abbruchquote bei 39%; in 2010 lag die durchschnittliche Abbruchquote bei 22%.

Das meine ich mit dem substantiellen Fortschritt, der sich im Laufe der Zeit zeigt. In gerade einmal 10 Jahren haben wir die Web-Usability fast verdoppelt. Diese Verbesserung ist vergleichbar mit anderen Aspekten des Gesamtbildes:

  • Die Konversionsraten der Websites haben sich ebenfalls etwa verdoppelt, von durchschnittlich 1% auf etwa 2%, wenn man viele Websites betrachtet. (Manche sind natürlich besser, andere aber schlechter.)
  • Wenn man die Rendite von Usability untersucht, zeigt sich, dass Aufmerksamkeit für Usability die gewünschten Geschäftskennzahlen ungefähr verdoppelt.

(Unsere neueste Studie von 2010 liefert noch etwas bessere Werte, aber ich habe 15 Websites bei unserer gegenwärtigen Analyse beiseitegelassen, weil wir diese Studie im Rahmen unseres Projektes "Big and Famous Sites" ["Grosse und berühmte Websites"] durchgeführt haben. Dieser Datensatz ist also ausgesprochen verzerrt, weil wir da gerade die Usability-Lektionen von besonders gut gestalteten Websites herauskitzeln wollten. So haben wir dort zum Beispiel bbc.co.uk getestet, weil wir wissen, dass das Nutzererlebnis von BBC etliche gute Aspekte hat. Es ist schön zu sehen, dass dies durch eine Abbruchquote von 17% [was leider ein guter Wert ist] bestätigt wird. Die Leistung von BBC ist nicht repräsentativ für Websites mit eher durchschnittlichen Usability-Budgets.)

Wir können auch auf zwei anderen Wegen die langfristige Verbesserung der Internet-Usability analysieren:

  • Die Verbesserungsrate beträgt 6% im Jahr. Damit meine ich nicht, dass die Abbruchquoten jedes Jahr um 6 Prozentpunkte sinken, sondern vielmehr, dass das Niveau der Abbrüche jedes Jahr um 1,06 kleiner ist als im Vorjahr. Zusammen mit dem Wunder des Zinseszinses produziert eine solche Verbesserung über 10 Jahre hinweg eine kumulierte Verbesserung von 77%, was unserem Gewinn bei der Abbruchquote von 39 auf 22 entspricht.
  • Eine 6-Sigma-Analyse der Usability zeigt, dass wir im Jahr 2000 bei einem Sigma-Niveau von 1,8 lagen - was schrecklich war im Vergleich mit jedem anderen Feld der Qualitätssicherung. Jetzt im Jahr 2010 lagen wir bei 2,3 Sigma. Bei einer Steigerung um 0,5 Sigma-Punkte im Jahrzehnt haben wir noch einen langen Weg vor uns, bis wir das Niveau 6 erreichen.

Die 6-Sigma-Analyse zeigt, wie schlecht es um die Usability beschaffen ist im Vergleich mit Qualitätsniveaus in der Industrie. Bei einer Verbesserungsrate von einem halben Sigma pro Jahrzehnt werden wir 74 Jahre brauchen, um eine Qualitätsstufe von 6 Sigma zu erreichen. (Die einzige gute Nachricht dabei: Dieser Umstand garantiert Usability-Profis eine lebenslange Anstellung.)

Der Fortschritt auf anderen Feldern

Usability verbessert sich mit einer Rate von 6% pro Jahr. Wie sieht im Vergleich dazu der Fortschritt auf anderen Gebieten aus?

Stephen Moore und Julian L. Simon haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "It's Getting Better All the Time" (etwa: Alles wird immer besser), in dem sie die Verbesserungen auf 100 verschiedenen Feldern im Laufe des 20. Jahrhunderts zusammengefasst haben. Schauen wir uns einige ihrer Statistiken an (alle aus den USA):

  • Kindersterblichkeit: 1915 bei 100 pro 1000 Geburten, bis 1998 gesunken auf 9. Verbesserungsrate: 3% pro Jahr.
  • Kinder ohne Karies: 26% in 1971, gestiegen auf 55% in 1988. Verbesserungsrate: 5% pro Jahr.
  • Leute, die im Winter täglich duschen oder baden: 29% in 1950, gestiegen auf 75% in 1999. Verbesserungsrate: 2% pro Jahr.
  • Notwendige Arbeitszeit, um ein Hühnchen kaufen zu können (zum Durchschnittslohn eines Arbeiters): 2 Stunden in 1920, gesunken auf 15 Minuten in 1999. Verbesserungsrate: 3% pro Jahr.
  • Aktienindex Standard & Poors: 6 in 1900, gestiegen auf 1400 in 1999. Verbesserungsrate: 6% pro Jahr. (Inzwischen hat sich herausgestellt, dass 1999 ein Jahr mit Aktienblase war und dass der S&P- Index später gesunken ist, aber um im Rahmen dieser Langzeit-Analyse zu bleiben, bleibe ich bei den Daten des Buches aus dem 20. Jahrhundert.)
  • Spielzeug-Absatz: 2 Mrd. $ 1921 (in Dollarwerten von 1998), gewachsen auf 45 Mrd. $ 1998. Verbesserungsrate: 4% pro Jahr.
  • Landwirtschaftliche Produktivität, Säcke Zwiebeln pro acre (ca. 4047 m²): 200 in 1950, gestiegen auf 800 in 1999. Verbesserungsrate: 3% pro Jahr.
  • Todesopfer von Hitzewellen in Chicago: 10.000 in 1901, gesunken auf 300 in 1995. Verbesserungsrate: 4% pro Jahr.
  • Geschwindigkeit von Flugzeugen: 37 Meilen pro Stunde 1905 (Gebr. Wright, Flugzeug III), gestiegen auf 2070 Meilen pro Stunde 1965 (Lockheed YF-12A). Verbesserungsrate: 7% pro Jahr.

Ich könnte das fortsetzen (das Buch hat 100 Datensätze), aber die Schlussfolgerung ist klar: der menschliche Fortschritt beträgt im Durchschnitt durch viele Gebiete 4% pro Jahr und rangiert zwischen 2% und 7%.

Und plötzlich sieht die Fortschrittsrate der Usability mit 6% pro Jahr gar nicht mehr so schlecht aus. Wir sind hier besser als in den meisten anderen Feldern.

Warum erwarten wir, dass es bei der Usability schneller geht? Das hat zwei Gründe:

  • schlechte Usability ist sehr handgreiflich. Jedes Mal, wenn wir auf eine schlechte Nutzeroberfläche stossen, wissen wir, wie sie besser sein könnte, wenn ihre Designer (oder ihre Manager) bloss die gut dokumentierten Usability-Richtlinien befolgt hätten. Es ist nicht so wie beim Erfinden eines schnelleren Flugzeugs, für das erst neu geforscht werden muss. Die meisten Usability-Verbesserungen erfordern nur, dass die Unternehmen implementieren, was bereits bekannt ist. Deshalb ist es besonders frustrierend, wenn sie das nicht tun.
  • Usability betrifft zwar alle Dinge, die eine Nutzeroberfläche haben - etwa auch die Bedienung von Aufzügen, Unterhaltungselektronik und Fernbedienungen -, aber am bekanntesten ist sie auf dem Feld der Websites und der Software-Anwendungen, die auf Computern laufen und deshalb mit dem Fortschritt der Computer-Technologie verglichen werden. Dieser Fortschritt aber ist gewöhnlich sehr schnell:

Wenn wir Teil einer Branche sind, die routinemässig einen Fortschritt von 50-60% pro Jahr erlebt, erscheint unsere Verbesserungsrate von 6% bei der Usability ziemlich kümmerlich.

Warum aber verhält sich die Usability weniger wie die Technologie und mehr wie andere Felder des menschlichen Fortschritts? Weil Usability die Menschen betrifft und nicht die Computer. Wir gestalten entlang der feststehenden Begrenzungen des menschlichen Geistes, und wenn wir Websites und Produkte verbessern, geschieht das innerhalb der Beschränkungen durch organisatorische Trägheit. Es reicht nicht, dass ein Designer ein Usability-Seminar besucht und die Richtlinien erlernt, um Websites einfacher zu machen. Der Designer muss auch den stellvertretenden Marketingleiter überzeugen, und das kann Jahre dauern. (Es dauert etwa 20 Jahre, bis ein Unternehmen, das mit Usability begonnen hat, seine Prozesse richtig umorganisiert hat.)

Ist das Glas also halb voll oder halb leer? Ich sage halb voll, weil wir in der Tat Fortschritte in der Usability gemacht haben, und weil sie sogar schneller sind als auf den meisten anderen Feldern. Allerdings bewegen sich andere Bereiche des menschlichen Fortschritts deutlich schneller als wir, so dass wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen können. Der Usability-Fortschritt könnte leicht auf, sagen wir, 7% pro Jahr beschleunigt werden, wenn der unsere Fähigkeit verbessern würden, die Kraft des nutzerzentrierten Designs zu kommunizieren.

 

© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.

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