Lange oder kurze Artikel als Inhaltsstrategie
Die Informationsfuttersuche zeigt, wie Sie Kosten und Nutzen Ihrer Inhaltsstrategie kalkulieren können. Eine Mischkost aus kurzen Überblicken und ausführlichen Betrachtungen ist meistens am besten.
by Jakob Nielsen (deutsche Übersetzung) - 12.11.2007
Wieviel Information ist genug? Wieviel ist zu viel? Und, was das Wichtigste ist, welche Informationsmenge ist optimal?
Die Informationsfuttersuche bietet uns eine Möglichkeit, die Entscheidung der Nutzer, wieviel sie auf Ihrer Website lesen, formal zu modellieren. Genauer gesagt ist die Auswahl der Kost ein modellierendes Werkzeug, das uns sagt, welches Futter die Tiere fressen und welche Artikel die Nutzer lesen. In beiden Fällen entscheiden sich die Tiere bzw. die Nutzer so, dass Kosten und Nutzen für sie in einem optimalen Verhältnis stehen.
Nehmen wir beispielsweise an, in einem Wald leben grosse und kleine Hasen. Welchen Hasen wird der Wolf fressen? Die offensichtliche Antwort scheint "die grossen Hasen" zu sein, da sie hinsichtlich der Füllung des Magens den grössten Nutzen bringen. Wenn die grossen Hasen aber nun schneller rennen und schwerer zu fangen sind, sinkt der Nutzen. Besser also, viele kleine schmackhafte Bissen zu fressen, wenn kleine Hasen leichter zu schnappen sind.
Grundsätzlich muss der Wolf mehr Kalorien fressen, als er durch die Jagd auf das Beutetier verbraucht. In Wirklichkeit ist die Frage also nicht, welche Beute am meisten Futter liefert, sondern wie man am meisten Futter bekommt im Verhältnis zum Arbeitsaufwand des Erjagens.
Das Kosten-Nutzen-Verhältnis zählt, nicht der reine Nutzen.
Ebendies trifft auch auf Informationsjäger zu. Ein langer Artikel mag mehr Information bieten, aber wenn es zu lange dauert, ihn zu lesen, verlassen die Nutzer die Website und holen sich anderswo kürzere, und damit einfachere Brocken.
Kosten-Nutzen-Rechnung fürs Lesen
Um das Model zu formalisieren, muss man die Kosten und den Nutzen, verschiedene Artikel zu lesen, quantifizieren.
Die Kosten sind einfach zu modellieren: Wir berechnen sie als die Zeitdauer, die man braucht, um einen Artikel zu lesen. In einem Intranet sind dies direkt in Dollar messbare Kosten, da Arbeitnehmer für jede Minute bezahlt werden, die sie während der Arbeitszeit damit verbringen, Sachen zu lesen. Für eine Website ist Zeit hingegen nur ein indirekter Kostenfaktor, da Nutzer nicht dafür bezahlt werden, im Web zu surfen. Dennoch ist das Leben kurz, und ein Tag hat nur 24 Stunden. Auch wenn die Nutzer nicht dafür bezahlt werden zu surfen, so sind sie sich ihrer Zeit doch bewusst und wollen sie nicht verschwenden.
Der Nutzen kann in Form von theoretischen Nutzeneinheiten modelliert werden, die den Wert der Online-Information für den Nutzer widerspiegeln. Für einen B-to-B-Nutzer, der eine Ware und einen Lieferanten sucht, sind die Nutzeneinheiten direkt in Dollar zu übertragen: Sie spiegeln das Ausmass wider, in dem das Unternehmen ein besseres Geschäft macht oder sich als Resultat der vom Nutzer im Web verbrachten Zeit entscheidet, ein besseres Produkt zu kaufen.
Für private Nutzer kann der Nutzen ebenso einen Geldwert haben. Wenn Sie beispielsweise ein Flugticket kaufen möchten, so ist der Nutzen dafür, mehr als eine Website zu besuchen oder mehr als eine alternative Abflugzeit zu prüfen, die durchschnittliche Ersparnis an Flugkosten, die sich daraus ergeben hat, dass eine grössere Datenmenge genutzt wurde, um die Kaufentscheidung für das Ticket zu treffen.
Wenn Leute die Nachrichten überfliegen oder eine Unterhaltungs-Website lesen, stehen die Nutzeneinheiten für die durch jede Webseite gewonnene Freude.
Das Beispiel: Lange oder kurze Artikel
Lassen Sie uns mit folgenden Werten für unsere Kosten-Nutzen-Rechnung ein Beispiel durchgehen:
- Kurze Artikel:
- 600 Wörter, d.h. Kosten in Höhe von 3 Minuten, um den Text zu lesen (bei einer angenommenen Lesegeschwindigkeit von 200 Wörtern pro Minute)
- 7 Nutzeneinheiten für jeden gelesenen Artikel
- Lange Artikel:
- 1000 Wörter, d.h. Kosten in Höhe von 5 Minuten, um den Text zu lesen
- 10 Nutzeneinheiten für jeden gelesenen Artikel
- Finden eines neuen Artikels: 1 Minute
Die folgende Graphik zeigt, wie die angesammelten Nutzeneinheiten anwachsen, wenn der Nutzer dabei bleibt, kurze Artikel (blaue Kurve) oder lange Artikel (rote Kurve) zu lesen:
Die Punkte auf den Kurven stehen für Wechselmomente - diese treten auf, wenn der Leser aufhört, einen Artikel zu lesen, anfängt, nach etwas anderem zu suchen und anfängt, den nächsten Artikel zu lesen. Während der Suchdauer wird kein Nutzen erzielt.
(Ich nutze den Ausdruck "suchen" hier, um jegliche Nutzeraktivität zu erfassen, die darauf abzielt, den nächsten interessanten Artikel zu finden, egal ob es die Nutzung einer Suchmaschine, eines Website-Navigationssystems oder eine andere Methode ist, das Nächste zum Lesen zu finden.)
Die Graphik zeigt klar, dass die Nutzer einen höheren Nutzen haben, wenn sie bei einer Diät aus kurzen Artikeln bleiben. Der kumulative Nutzen ist wie folgt:
- kurze Artikel: 105 Nutzeneinheiten pro Stunde
- lange Artikel: 100 Nutzeneinheiten pro Stunde
Die Schlussfolgerung ist klar: Die Leute bevorzugen es, kurze Artikel zu lesen. Dasselbe haben wir auch bei empirischen Studien über das Nutzerverhalten beim Lesen von Websites herausgefunden. Die Leute neigen dazu, langatmige Websites unbarmherzig zu verlassen; sie wollen hauptsächlich die Highlights absahnen.
Vorteile des Kürzens von Texten
Wenn Sie meine Annahmen sorgfältig gelesen haben, werden Sie bemerken, warum die Mathematik kurze Artikel favorisiert: Ich habe angenommen, dass kurze Artikel nur 60% der Länge von langen Artikeln aufweisen, aber immer noch 70% des Nutzens bringen.
Ist das realistisch? In den meisten Fällen würde ich sagen: Ja. Ein guter Texter sollte in der Lage sein, 40% der Wörter weg zu kürzen und dabei den Wert des Artikels nur um nur 30% zu verringern. Schliesslich sollen die Kürzungen vor allem die am wenigsten wertvollen Informationen betreffen.
Wann sich Länge lohnt
Lassen Sie uns nun die Annahmen ändern und annehmen, dass jeder dritte lange Artikel dreimal wertvoller ist als die beiden anderen. In anderen Worten: 2/3 der langen Artikel bescheren dem Nutzer auch weiterhin 10 Nutzeneinheiten an Informationswert, aber 1/3 der langen Artikel hat nun einen Nutzenwert von 30.
Dieses Szenario entspricht der gelegentlich auftretenden Situation, in der Sie buchstäblich alles über ein Problem erfahren müssen.
Stellen Sie sich zum Beispiel eine seltene Krankheit vor, bei der die Erkrankten ihr Leben riskieren, wenn sie sechs bestimmte Lebensmittel essen: Vier davon sind normale Lebensmittel, und zwei sind Dinge, die sowieso fast niemand essen würde. Wenn Sie aus reiner Neugier über diese Krankheit etwas lesen würden, wären Sie vermutlich mit einem kurzen Artikel zufrieden, der die vier normalen Lebensmittel behandelt. Wenn Sie aber diese Krankheit diagnostiziert bekommen hätten, wären Sie nicht damit zufrieden, einen Artikel zu lesen, der sagt: "Es gibt sechs Dinge, die Sie töten werden. Aber über zwei davon sprechen wir hier nicht, weil sie nur selten vorkommen." Bestimmt würden Sie den langen Artikel lesen wollen, der Sie vor allen Dingen warnt, die Sie vermeiden müssen.
Die folgende Grafik zeigt die Kosten-Nutzen-Kurve unter dieser neuen Annahme:
Die blaue Kurve zeigt die Entwicklung des Nutzens, den man vom Lesen bloss der kurzen Artikel bekommt (es ist dieselbe Kurve wie im letzten Diagramm). Die rote Kurve zeigt den Nutzen vom Lesen langer Artikel unter der neuen Annahme: Bei jedem dritten Artikel steigt der Nutzen an und lässt die blaue Kurve so um einiges hinter sich.
Das augenscheinliche Ergebnis ist, dass lange Artikel besser sind, da sie nun manchmal wertvoller sind.Es gibt aber noch ein drittes Verhalten, dass die Nutzer wählen können: Eine Mischkost, bei der sie manchmal die kurzen Artikel lesen und manchmal die langen. Die grüne Kurve zeigt dieses Nutzerverhalten an.
Für die Mischkost müssen wir die Annahmen hinsichtlich der Zeit zum Identifizieren des nächsten zu lesenden Artikels ändern. Ich nehme an, dass man dafür nun 1,2 Minuten braucht, während man beim einfacheren Szenario, bei dem die Leute immer nur einen einzigen Artikel-Typ lesen, nur 1 Minute braucht. Der Anstieg kommt daher, dass beim Umgang mit zwei Artikeltypen zusätzliche Zeit nötig ist, um zu entscheiden, wann man was lesen soll.
Entscheidungen brauchen Zeit, deshalb ist es oft besser, eine einfache Nutzeroberfläche zu verwenden als eine mit vielen Optionen. Jedes Zusatz-Ding, das die Nutzer tun können, braucht auch wieder Überlegungen, die einem etwas von der Zeit stehlen, die Anwendungen wirklich zu nutzen.
In diesem Falle ist die grüne Kurve sogar besser als die rote. Denn die Nutzer verschwenden keine Zeit mit den 2/3 der langen Artikel, die nicht genügend wertvoll sind.
Für das neue Szenario ist der gesamte Nutzen der verschiedenen Lese-Strategien für den Nutzer:
- Kurze Artikel: 105 Nutzeneinheiten pro Stunde
- Lange Artikel: 167 Nutzeneinheiten pro Stunde
- 2/3 kurze Artikel + 1/3 lange Artikel: 181 Nutzeneinheiten pro Stunde
Mathematische Modelle und das wirkliche Leben
Im wirklichen Leben brauchen Sie natürlich nicht exakt jedes dritte Mal detaillierte Informationen, wenn Sie einen Artikel lesen.
Aber die generelle Idee meines Modells ist extrem realistisch:
- Der Lese-Nutzen variiert, abhängig von den Umständen der Leser.
- Meistens enthalten kurze Artikel mehr Nutzen pro Wort.
- Manchmal erhalten die Leute einen höheren Nutzen aus umfassenden oder sehr detaillierten Informationen über ein Problem.
In meinen Kalkulationen sind die exakten Zahlen blosse Annahmen zu Übungszwecken. Sie können solche Kalkulationen für Ihren Materialtyp und Ihren Nutzertyp erstellen.
Was sollten Sie tun?
Sollte Ihre Website also nun knappen oder detaillierten Inhalt haben?
- Wenn Sie viele Leser haben wollen, konzentrieren Sie sich auf kurzen und überfliegbaren Inhalt. Das ist eine gute Strategie für werbliche Websites oder solche, die es auf Impulskäufe abgesehen haben.
- Wenn Sie Leute wollen, die wirklich eine Lösung brauchen, konzentrieren Sie sich auf umfassende Darstellungen. Dies ist eine gute Strategie, wenn Sie höchst zielgerichtete Lösungen für komplizierte Probleme verkaufen.
Normalerweise sind Leute, die etwas wirklich brauchen, die nützlichsten Nutzer, denn sie werden mit höherer Wahrscheinlichkeit zu zahlenden Kunden. Deshalb empfehle ich, Artikel zu schreiben, anstatt in Blogs zu posten.
Die allerbeste Inhalts-Strategie ist jedoch die, die die Mischkost des Nutzers widerspiegelt. Es gibt keinen Grund dafür, sich nur einen Inhaltstyp zu beschränken. Es ist möglich, kurze Überblicke für den Grossteil der Nutzer anzubieten und sie mit in die Tiefe gehenden Darstellungen und Fachartikeln für die wenigen Nutzer zu ergänzen, die mehr wissen möchten.
Natürlich sind diese zwei Nutzertypen häufig dieselbe Person - die es eigentlich immer eilig hat, aber manchmal auch gerne sorgfältig recherchiert. In Wahrheit zeigt unsere Studie über B-to-B-Nutzer, dass professionelle Nutzer oft gar nicht vertraut sind mit den komplexen Produkten oder Dienstleistungen, die sie kaufen, und dass sie einfache Übersichten benötigen, um sich selbst zu orientieren, bevor sie mit detaillierteren Recherchen beginnen.
Der rettende Hypertext
Im Web können Sie sowohl kurze als auch lange Abhandlungen in einem einzigen Hyperspace anbieten. Beginnen Sie mit Übersichten und kurzen, vereinfachten Webseiten. Dann verlinken Sie zu langen, ausführlicheren Darstellungen auf anderen Webseiten.
Mit diesem Ansatz können Sie beide Typen an Nutzern bedienen (oder denselben Nutzer in verschiedenen Stadien des Kaufprozesses). Je mehr Nutzen Sie den Nutzern für jede Minute bieten, die sie auf Ihrer Website verbringen, desto wahrscheinlicher werden diese Ihre Website nutzen und desto länger werden sie darauf verweilen. Deshalb ist es so wichtig, Ihre Inhalts-Strategie für die Bedürfnisse Ihrer Nutzer zu optimieren.
© Deutsche Version von Jakob Nielsens Alertbox. Institut für Software-Ergonomie und Usability AG. Alle Rechte vorbehalten.
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